Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Zerstörung mit den Investments erst angerichtet wurde. Das Problem ist so alt wie das industrielle Mäzenatentum selbst. Bertolt Brecht wollte mal ein Stück über das ursprünglich streng marxistische Frankfurter Institut für Sozialforschung schreiben, das von einem nach Argentinien ausgewanderten deutschstämmigen Fleischfabrikanten finanziert wurde. In Brechts Arbeitsjournal heißt es dazu an einer Stelle: »er stiftet […] eine große summe für die errichtung eines instituts, das die quelle des elends erforschen soll. das ist natürlich er selber.« [191]
Ein Mobilitätsdienstleister denkt selbst
Preisfrage: Welche europäische Kulturhauptstadt erlaubte es sich, ihren städtischen Straßenbahnverkehr nach 22 Uhr einzustellen? Die Antwort ist: die Ruhrstadt Essen. Dort gilt öffentlicher Nachverkehr ohnedies als Resttransportmittel für die, die sich kein Auto leisten können. Radfahren ist ebenfalls tödlich, weshalb lediglich 3,7 Prozent der Bevölkerung das Fahrrad als Transportmittel nutzen. Eine ehemalige Verkehrsdezernentin sagte mir auf die Frage, wie das denn alles komme, es handele sich um ein mentalitätsgeschichtliches Phänomen, das auf die 1950er Jahre zurückgehe: Der deutsche Arbeiter habe ein Anrecht auf ein Auto und auf seinen bedingungslosen Einsatz. Deshalb holt man im Ruhrgebiet auch heute noch die Zigaretten mit dem Auto, niemals anders. Und Radfahrer? Gehören nicht dahin. Und öffentliche Verkehrsmittel: ausschließlich für die, die es nicht geschafft haben.
Nächste Preisfrage: In welcher europäischen Hauptstadt haben knapp die Hälfte der Haushalte kein eigenes Auto? In Bern, Hauptstadt der Schweiz. In diesem Land legen die Einwohner mehr als doppelt so viele Kilometer mit der Bahn zurück wie beispielsweise in Deutschland. Warum? Weil jede größere Stadt im Halbstundentakt, manche sogar im Viertelstundentakt erreicht wird. Weil noch das letzte Dorf Anschluss hat. Weil die Züge pünktlich sind. Weil der Verbund mit anderen öffentlichen Verkehrsmitteln funktioniert. Die Zeitschrift des VCD hat mal den Brief eines Lesers abgedruckt, der fassungslos berichtete, dass man mit dem Bus aus Luzern, der um 16.18 Uhr Weggis erreicht, das Schiff um 16.19 Uhr bekommt. Das stimmt. Ich habe es ausprobiert, als mein sinnloses Auto in Luzern in der Werkstatt stand. Ein anderer Leser berichtet, dass ein Busfahrer im Fall einer zweiminütigen Verspätung den Anschlusszug angerufen habe, der dann – selbstverständlich – auf die Fahrgäste gewartet habe.
Treibt einem so etwas als Nutzer der Deutschen Bahn schon die Tränen der Rührung in die Augen, kommt man beim Studium der Prospekte der Schweizer Bahn aus dem Staunen nicht heraus: Das Generalabonnement, das der hiesigen Bahncard 100 entspricht, aber erheblich günstiger ist und Ermäßigungen zum Beispiel für junge Menschen bis 25 Jahre genauso vorsieht wie für Studierende oder Behinderte, kann man, wenn man es eine Weile nicht braucht, am Schalter hinterlegen und bekommt die entsprechenden Wochen auf die Laufzeit draufgerechnet. Man bekommt auch problemlos eine Ersatzkarte ausgestellt, falls man seine mal vergessen hat. Man bekommt auch ein Generalabo für seinen Hund, klassenlos. Ich zitiere aus dem SBB-Prospekt: »Das Hunde-GA trägt keinen Klassenvermerk und ist sowohl in der 2. Klasse wie auch in der 1. Klasse gültig.«
Man kann sein Fahrrad an jedem Schweizer Bahnhof abgeben und am übernächsten Tag dort abholen, wo man es haben möchte. Man kann es auch selbst mitnehmen. Man erhält dafür eine geeignete Transporttasche am Gepäckschalter. So kostenlos wie die Mitnahme selbst. Für Phasen erhöhten Fahrgastaufkommens haben die Bahntechniker Modulwagen entwickelt, die problemlos an die Züge angehängt oder ihnen sogar vorgespannt werden können. Noch mehr? Ein Halbtax-Abo, das der Bahncard 50 der DB entspricht, aber darüber hinaus die meisten Bergbahnen, Schifffahrtslinien und Busse einschließt, kostet für drei Jahre weniger als die Bahncard für ein Jahr. Habe ich schon erwähnt, dass die Züge alle pünktlich fahren? Sauber sind? Freundliches Personal haben? Guten Kaffee servieren?
Was heißt das alles? Die Schweizer Bahn ist ein Lifestyleprodukt. Die Kultur des öffentlichen Transports ist in der Schweiz so schick wie andernorts der SUV. Die Hälfte aller Einwohner der Schweiz besitzt ein Bahnabo; zwei Millionen Halbtaxabos sind im Umlauf. Auch wenn es in der Schweiz schneit, fahren die Züge und Busse.
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