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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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Niemand braucht die Umständlichkeiten der Parkplatzsuche, des Vignettenkaufs, des Tankens usw. in Kauf zu nehmen, um von A nach B zu kommen. Kurz: Die Schweizer Bahn zeigt, wie ein Land funktioniert, in dem der öffentliche Verkehr kein ungeliebtes Add-on zum Auto ist: angenehm, komfortabel, nachhaltig. Die Schweizer Bahn möchte übrigens auch nicht an die Börse. Was soll sie da auch? Ihre Aufgabe sieht sie in der möglichst zuverlässigen Bereitstellung von demokratischer Mobilität.
    Das ist ein Beispiel für die Tragweite von Unternehmenskultur. Die Schweizer Bahn versteht sich weder als globaler Dienstleister noch als Wettbewerber, noch als zukünftige Aktiengesellschaft. Sie versteht sich als Unternehmen, das ihren Kunden die bestmögliche Mobilitätsdienstleistung bieten möchte. Wenn so etwas funktioniert, spiegelt sich das auch im Nutzerverhalten: Es ist einfach angenehm und bequem, öffentlich zu fahren in der Schweiz, es impliziert keine Klassenunterschiede, es schafft Freiräume und Komfortgewinne gegenüber anderen Formen der Mobilität. Und es ist sozial: Kein Ort ist abgehängt, niemand wird zum Benutzen eines Autos gezwungen. Eine solche Bahn braucht man für die nachhaltige Moderne.

Rimini Protokoll denkt selbst
    »Dies ist hier weder ein Schauspiel noch ein Theaterstück!« Das fühlte sich Klaus Bischoff, Vorstandsmitglied der Daimler AG, mitzuteilen bemüßigt, als er am 8. 4. 2009 die Jahreshauptversammlung des Konzerns eröffnete. Solche Hauptversammlungen dauern den ganzen Tag, es kommen mehr als 6000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Kleinaktionäre genauso wie institutionelle Investoren, Gewerkschafter genauso wie Journalisten. Wer selten kommt, sind Schauspieler und Regisseure. Dabei sind solche Versammlungen gigantische Inszenierungen, in denen von der Dramaturgie der Sprecherreihenfolge, der Produktpräsentation, der Licht- und Tonregie, der Kaffeepausen usw. alles perfekt choreographiert ist, perfekt, wie es sich für den schwäbischen Autohersteller gehört. Was man nicht völlig kontrollieren kann bei so einer Hauptversammlung, sind die Auftritte und Wortbeiträge der Kleinaktionäre; manch einer macht seinem Unmut Luft, dass die Dividende zu niedrig ausfällt, die falschen Autos gebaut oder die falschen Unternehmen zugekauft werden. Es gibt auch diejenigen, die subversiv zu Werke gehen und ihre stimmberechtigende Aktie nur besitzen, um auf der Hauptversammlung das Wort ergreifen, gegen irgendetwas Skandalöses protestieren, Umweltsünden anprangern oder den Kapitalismus anklagen zu können.
    Insgesamt weist so eine Hauptversammlung alle Merkmale eines gelegentlich langatmigen, aber doch durch Aufwand beeindruckenden Theaterstücks auf, in das, wie im modernen Regietheater üblich, auch einige unkontrollierte Momente eingefügt sind, die das Ganze in Grenzen unvorhersehbar und damit interessant machen.
    Die Theatergruppe »Rimini Protokoll« hatte zu alldem eine geniale Idee. Sie erklärte die komplette Hauptversammlung zu ihrem Stück, vergab Aktien an 150 Zuschauer, die damit ein Zutrittsrecht hatten, und veranlasste eben Klaus Bischoff zu der versichernden Mitteilung, man habe es mit keinem Schauspiel zu tun. Genau damit säte er natürlich erst allen Argwohn, manches an der Veranstaltung könne doch Theater sein. Diese Interferenz zwischen zwei unterschiedlichen Definitionen der Situation – Hauptversammlung oder Theaterstück – war nicht nur für Klaus Bischoff höchst beunruhigend, denn wenn der Referenzrahmen unklar ist, in dem eine Situation zu deuten ist, gerät schnell alles aus den Fugen: Stimmen die Zahlen? Ist das wirklich ein Mitglied des Vorstands? Ist die Rede ernst gemeint oder eine Persiflage? Was ist Theater, was nicht?
    Nun könnte man denken, es ging Rimini Protokoll um die Entlarvung des inszenatorischen Charakters solcher Veranstaltungen, was ziemlich langweilig wäre. Tatsächlich ging es um etwas viel Interessanteres: nämlich um den leichthändigen Nachweis, dass es ausschließlich von der Eindeutigkeit des Rahmens abhängt, was eine Veranstaltung, ein Ereignis, ein Geschehen ist. Der Soziologe Erving Goffman hat sich in vielen Büchern mit den Prinzipien befasst, die unsere Realitätsdefinitionen organisieren, und dargelegt, dass solche Definitionen höchst fragil sein können. Dabei haben ihn Agenten, Spione, Hochstapler und natürlich Schauspieler ebenso interessiert wie Täuschungen und Irrtümer aller Art. Unsere Wirklichkeitsdefinition bedarf der

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