Selbst ist der Mensch
Wahrscheinlichkeit das Gleiche. Dabei sollte man festhalten, dass die Ursachen eines Angst-oder Glückszustands – die Gedanken, die solche Zustände verursachen – im Laufe eines Lebens sehr unterschiedlich sein können; für das Profil der emotionalen Reaktionen auf solche Ursachen gilt das aber nicht.
Wo ist das übergeordnete interozeptive System aktiv? Die Antworten auf diese Frage sind in den letzten zehn Jahren immer genauer geworden; das verdanken wir Forschungsarbeiten, deren Spektrum von physiologischen Messungen auf der Ebene der Zellen und experimentellen neuroanatomischen Untersuchungen an Tieren bis zur funktionellen Magnetresonanztomographie bei Menschen reichte. Unter dem Strich führten solche Arbeiten (die in Kapitel 4 genauer erörtert wurden) zu ungewöhnlich detaillierten Kenntnissen über die Wege, auf denen derartige Signale ins Zentralnervensystem gelangen. 7 Die neuronalen und chemischen Signale, die Körperzustände beschreiben, werden auf vielen Ebenen des Rückenmarks, des Trigeminuskerns im Hirnstamm und jener besonderen Neuronengruppen, die an den Rändern der Gehirnventrikel liegen, an das Zentralnervensystem übertragen. Von allen diesen Eintrittsstellen werden die Signale zu den großen integrativen Kernen im Hirnstamm weitergeleitet. Die wichtigsten dieser Kerne sind der Nucleus tractus solitarius, der Nucleus parabrachialis und der Hypothalamus. Dort werden die Signale lokal verarbeitet und dienen zur Regulation des Lebensprozesses sowie zur Erzeugung ursprünglicher Gefühle, sie werden aber außerdem auch über eine bequeme Zwischenstation in den Übertragungskernen des Thalamus an die Inselrinde weitergeleitet, den Abschnitt, den man am eindeutigsten mit der Interozeption in Verbindung bringen kann. Obwohl die Großhirnrinde ein wichtiger Bestandteil dieses Systems ist, halte ich den Hirnstamm für das Fundament des Selbst-Prozesses. Wie in der Hypothese dargestellt, kann er selbst dann ein funktionsfähiges Protoselbst liefern, wenn die Rindenkomponente in großem Umfang geschädigt ist.
Abb. 8.3 . Kerne des Hirnstamms, die an der Erzeugung des Kern-Selbst mitwirken. Wie in Abbildung 4.1 gezeigt, gewährleisten mehrere Kerne des Hirnstamms durch ihr Zusammenwirken die Homöostase. Die mit der Homöostase beschäftigten Kerne entsenden aber auch Fortsätze zu anderen Gruppen von Kernen im Hirnstamm (hier als andere Hirnstammkerne bezeichnet). Diese bilden mehrere Funktionsfamilien: die klassischen Kerne der retikulären Formation wie Nucleus pontis oralis und Nucleus cuneiformis, die über die intralaminaren Kerne des Thalamus Einfluss auf die Großhirnrinde nehmen, die monoaminergen Kerne, die unmittelbar Moleküle wie Noradrenalin, Serotonin und Dopamin in große Bereiche der Großhirnrinde ausschütten, und die cholinergen Kerne, die Acetylcholin freisetzen.
Nach der hier vertretenen Hypothese erzeugen die Homöostase-Kerne mit den »Gefühlen, etwas zu wissen« einen Bestandteil des Kern-Selbst. Die Neuronenaktivität, die diesem Prozess zugrunde liegt, zieht ihrerseits die anderen, nicht an der Homöostase beteiligten Kerne des Hirnstamms heran, die dann die »Objektbesonderheit« erzeugen. (Abkürzungen wie in Abbildung 4.1 )
Übergeordnete Karten des Organismus
Die übergeordneten Karten des Organismus beschreiben schematisch den ganzen Körper mit seinen wichtigsten Teilen – Kopf, Rumpf, Gliedmaßen – im Ruhezustand. Die Bewegungen des Körpers werden im Vergleich zu dieser Hauptkarte aufgezeichnet. Im Gegensatz zu den interozeptiven Karten verändern sich die Hauptkarten des Organismus im Laufe der Entwicklung dramatisch, denn sie bilden das Muskel-Skelett-System und seine Bewegungen ab. Deshalb folgen diese Karten zwangsläufig der Zunahme der Körpergröße sowie dem Umfang und der Qualität der Bewegungen. Wie man sich leicht vorstellen kann, können sie bei einem Kleinkind, einem Jugendlichen und einem Erwachsenen nicht die gleichen sein, irgendwann wird aber eine Art vorübergehender Stabilität erreicht. Deshalb sind die übergeordneten Karten des Organismus keine ideale Quelle für die Einzigartigkeit, die zum Aufbau des Protoselbst notwendig ist.
Das übergeordnete interozeptive System muss zu dem allgemeinen Rahmen passen, der in allen Wachstumsphasen von der Hauptkarte des Organismus geschaffen wird. In einer groben Skizze würde sich das übergeordnete interozeptive System innerhalb des allgemeinen Rahmens für den Organismus befinden. Es
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