Selbstbeherrschung umständehalber abzugeben
Kindern?«
»Zu den artigen. Andernfalls schaut Knecht Ruprecht vorbei.«
»War ich unartig?«
»Nö. Ging so. Teils teils.«
Ich habe im November Weihnachtsgeschichten im Seniorenheim vorgelesen, Charles Dickens und Konsorten. Mein Kind hatte ich mitgenommen, und irgendwann wurde es meinem Sohn langweilig.
»Dann mach dich nützlich. Und sei lieb«, sagte ich. Eine halbe Stunde zuvor hatte es Kaffee und Kuchen gegeben, und die Schwestern begannen, das Besteck wieder einzusammeln. Mein Sohn versuchte eifrig, dabei zu helfen, indem er eine beliebige Zimmertür aufriss und hineinbrüllte: »SIE MÃSSEN JETZT DEN LÃFFEL ABGEBEN!«
Das war nicht schön, aber da ichâs für diesen Text verwenden kann â seiâs drum. Also sagte ich:
»Du warst schon ziemlich lieb.«
»Dann krieg ich Knecht Ruprecht nicht zu sehen?«
»Nein.«
»Weilâs den nicht gibt!«
»Quark. Den gibtâs.«
»Wie sieht er denn aus?«
»Warum?«
»Darum!«
Zwingende Argumentationskette. Damit wird er später in der Politik massiv durchstarten.
»Ich fordere eine Autobahnmaut für Bobbycars!«
»Warum?«
»Darum.«
»Also der sieht übel aus, der Knecht Ruprecht. Nicht schön.«
»Trägt er eine Maske?«
»Was? ⦠Klar!«
»Und eine Waffe?«
»â¦Â doch. Bestimmt. Ne Axt.«
»Knurrt der?«
»Ja sicher. Der knurrt wie sonstwas. Maske, Axt, ganz in Schwarz, am Rumknurren. Ganz fieser Stratege. Aber du kriegst den ja nicht zu sehen. Warst ja lieb.«
»Aber wenn ich böse bin, kommt er und ich kann ihn sehen!«
»Theoretisch. Aber du hast ja nix Böses getan. Deswegen wird das nix. Sei froh.«
Gut gelöst, dachte ich.
Das war zwei Stunden vor der Bescherung. Und etwa vierzig Minuten, bevor mein Sohn mit voller Absicht das Katzenklo in die Sockenschublade entleerte.
Hier die Chronologie des zerklüfteten Rests vom Heiligabend:
18:45 Uhr
»Bist du irre? Was soll das?«, fragte ich.
»Ich warte auf Knecht Ruprecht.«
»Der kommt nicht!«
»Weilâs den nicht gibt!«
»Doch!«
»Dann kommt er auch. Du würdest mich ja nicht anlügen, Papa!«
Wie er strahlte. Verdammt. Ich hatte meinen eigenen Sohn falsch eingeschätzt: Er glaubte an den Weihnachtsmann, weil er ihn aus Film, Funk und Fernsehen kannte. Aber ihm fehlte jedes visuelle Konzept zum Knecht. Das einzige Bild, das er kannte und das dem Abbild Knecht Ruprechts nahekam, war aus dem STERN.
»Papa, ist das Knecht Ruprecht?«
»Nee. Das ist Silvio Berlusconi. GroÃer Rutenschwinger, aber nicht der Knecht.« Super. Das Kind glaubt nicht. Und nun? Ich musste was tun.
19:10 Uhr
Im Keller riechtâs nach verwarzter Autobatterie. Immerhin: Axt ist da. Suche meine alte Lederkombi aus der Zeit, als ich dachte, Frauen fänden es prima, wenn Männer ihre Angebetete mit 240 km/h auf dem Moped zur Eisdiele fahren. Stimmt aus zwei Gründen nicht: 1. Man schafft nur 190, wenn die Eisdiele auf der anderen StraÃenseite ist, und 2. Der Bremsvorgang fällt entsprechend ruppig aus. Fazit: Frauen, die gebrochen haben, wollen dann keinen Krokantbecher. Das nur mal als nützliche Info.
Quetsche mich in die Ledermontur. Passt. Aber irgendwann muss ich atmen. Maske? Ich improvisiere. Finde einen leeren Mayonnaiseeimer. Mit der Zange Löcher rein. Setze ihn auf. Es riecht nach toter Maus und Karneval 76, aber ich kann sehen. Paulo Coelho sagte mal: Denn nur dem, der den Mut hat, den Weg zu gehen, offenbart sich der Weg. Ich kann nur hoffen, dass Coelho beim Ersinnen dieser Weisheit einen Eimer auf dem Schädel hatte.
19:30 Uhr
Bin im Treppenhaus. In 5Â Minuten ist Bescherung.
Als ich mit Lederoverall, Axt und Mayo-Eimer auf dem Brägen die Klingel drücken will, geht das Licht an. Herr Reinkober betritt das Treppenhaus.
Er stutzt kurz, dann brüllt er: »Fass, Rommel!« Wusste ichâs doch. Rommel. Klassischer Dackelname. Das Tier gibt alles, ist aber zu fett und kommt nur bis zum Knie. Und ich trage Leder. Kann Rommel ja kaputtlutschen. Konzentration jetzt.
Dann öffnet sich unsere Wohnungstür.
Meine Familie:
»Was ist das für ein Radau?«
Ich hebe die Axt, wackle mit dem Kopf und sage: »KNURR!«
Mein Sohn: »Papa?«
Ich: »KNURR!«
»Papa?«
»Nee! KNURR!«
Reinkober: »Herr Sträter?
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