Selbstmord der Engel
die wie Balken wirkten. Es war kein gutes Gesicht. Grau, alt, aber auch wieder alterslos. Mit einer grauen Haut und ebenfalls grauen Augen. Sie schauten, aber sie blickten nicht offen. Wer in sie hineinsah, der konnte sie nur als heimtückisch und verschlagen bezeichnen. Dass einer wie er log, war diesem verschlagenen blick einfach anzusehen.
Eine lange Nase, ein gekrümmter Mund, der keine Spur von Freundlichkeit aufwies. Diese Gestalt vereinigte alles in sich, was einen Menschen schlecht machte.
Nackt kletterte er in die Küche. Das Fenster war für ihn breit genug, und seine Haare hingen dabei nach vorn, sodass sein Gesicht vom Profil her verdeckt wurde.
Maxine Wells hatte genug gesehen. Sie wollte weg und versuchen, ein Versteck zu finden.
»Komm jetzt, Carlotta!«
»Nein!«
Die Tierärztin glaubte, sich verhört zu haben.
Einen weiteren Satz zu sagen, empfand sie als überflüssig. Sie legte die Hände auf Carlotta’s Schultern, um das Vogelmädchen zurückzuziehen, aber Carlotta spielte nicht mit.
Sie stemmte ihre Füße fest gegen den Boden und erwiderte den Druck als Gegendruck.
»Wir müssen aber...«
»Nein, wir müssen nicht!«
Für die Tierärztin brach eine Welt zusammen. Auf einmal glaubte sie, einen Kloß in ihrer Kehle zu haben, und sie hatte das Gefühl, alles verloren zu haben, an das sie bisher geglaubt hatte.
Inzwischen war Belial in die Küche geklettert. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, und mit seinem Kopfende erreichte er beinahe die Decke. Er starrte beide Personen an, und jetzt merkte Maxine, dass noch etwas von ihm ausging, das sie als unheimlich ansah. Sie konnte es nicht erklären, es war auch ein Geruch, der bei einem normalen Menschen nicht wahrzunehmen war.
Manchmal roch es so scharf, wenn sich die Elektrizität bei einem Gewitter entlud. Genau damit konnte sie den Geruch des Eindringlings vergleichen. Er tat ihnen nichts. Er kümmerte sich auch nicht um Maxine, sondern schaute Carlotta an.
»Ich mag dich«, sagte er mit einer Stimme, die schrill und zugleich kratzig klang. Als hätten sich zwei in einer vereinigt.
Das darf nicht wahr sein!, schoss es Maxine durch den Kopf. Das ist eine Lüge, eine Lüge! Er ist der Engel der Lügen. Er macht uns etwas vor, er will...
»Ich mag dich auch!«
Nein, um alles in der Welt nicht. Das konnte Carlotta nicht gesagt haben! So dumm war sie nicht. Unmöglich. Damit kam er nicht weiter. Carlotta war normal. Sie war intelligent. Sie würde dieses Wesen immer durchschauen können.
Und doch hatte sie geantwortet!
Dann tat sie etwas, das Maxine ebenfalls nicht begriff. Sie riss sich einfach los und ging auf Belial zu.
Im ersten Moment konnte sie es nicht begreifen. Maxine fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Was durch ihren Kopf schoss, kriegte sie nicht mehr in die Reihe. Es war furchtbar, und sie hatte zudem den Eindruck, als würde in diesem Moment eine ganze Welt zusammenbrechen.
Aufhalten ließ sich Carlotta nicht. Sie ging zu diesem verfluchten Lügen-Engel, der bereits beide Hände nach ihr ausgestreckt hatte. Es waren lange, dunkle Finger. Dazu sehr kräftig und mit fast schwarzen Nägeln bestückt. Carlotta zeigte nicht die Spur von Angst. Sie besaß ein schon traumatisches Vertrauen zu dieser Gestalt, und genau das konnte Maxine nicht akzeptieren. Wenn sie jetzt nicht eingriff, würde sie kaum mehr in einen Spiegel schauen können. Deshalb warf sie alle Bedenken über Bord und stürzte ihrem Schützling hinterher.
Sie schrie dabei Carlotta’s Namen, die nicht reagierte. Belial tat ebenfalls nichts. Er wartete, bis Maxine das Vogelmädchen erreicht hatte, das sie mit beiden Händen zurückzerren wollte.
Kaum hatte sie Carlotta angefasst, als der Lügen-Engel handelte. Er riss seine Arme in die Höhe, und plötzlich lösten sich aus seinen jetzt gespreizten Fingern Blitze, die sofort danach ein Netz bildeten, das die Tierärztin umfing.
Sie konnte nichts mehr unternehmen. Plötzlich stand sie inmitten eines hellen Käfigs. Sie wurde von diesen gelbweißen Fäden umfasst. Sie glaubte, vom Boden hochgehoben zu werden. Sie schwebte, sie fiel, und vor ihren Augen tanzten die grellen Fäden zuckend hin und her. Die Luft war für sie scharf geworden. Sie stach in ihrer Kehle, wenn sie einatmete, und erst als sie den Schlag gegen den Hinterkopf bekam, wurde sie wieder zurück in die Wirklichkeit gerissen.
Verwirrt öffnete sie die Augen und sah sich selbst am Boden
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