Selbstmord der Engel
vor ihr lag.
Von ihrem Ziehkind war nichts zu hören. Das machte sie noch misstrauischer, und auch auf ihren leisen Ruf hin reagierte niemand.
Sie ging zur Küche.
Die Küchentür war nicht ganz geschlossen, aber so weit zu, dass Maxine nur einen Teil überblickte und auch Carlotta nicht sah.
Sie drückte die Tür weiter auf.
Da stand Carlotta. Sie drehte sich nicht um, obwohl sie etwas gehört haben musste. Sie hielt sich vor dem Fenster auf und starrte durch die Scheibe nach draußen in die Dunkelheit.
Maxine war weiter vom Fenster entfernt. Trotzdem riskierte sie einen Blick, ohne im dunklen Garten etwas erkennen zu können. Deshalb fragte sie sich, warum das Mädchen so angespannt durch die Scheibe schaute.
Über die Schwelle schritt sie hinweg und sprach das Vogelmädchen mit leiser Stimme an.
»Carlotta? Was ist los?«
Die Angesprochene drehte sich nicht um. Aber sie gab eine Antwort. »Da draußen ist jemand...«
Einen Blitz hatte Carlotta gesehen, aber nun kam Maxine sich so vor, als wäre sie von einem solchen getroffen worden. Mit dieser Eröffnung hatte sie nicht gerechnet, und sie schrak zusammen. Zugleich machte ihr die tonlose Stimme des Mädchens Angst, und sie musste sich schon arg zusammenreißen, um die nächste Frage zu stellen.
»Bist du sicher?«
»Ja, bin ich.«
»Wer ist es?«
»Ich kenne ihn nicht.«
»Kannst du denn was erkennen?«
»Nichts Genaues«, gab Carlotta flüsternd zurück. »Aber ich... ich... habe Angst.«
Wenn sie das sagte, dann musste es dafür einen triftigen Grund geben, denn so ängstlich war sie normalerweise nicht.
Maxine blieb nicht mehr an ihrem Platz stehen. Sie überkam das Bedürfnis, so etwas wie eine Schutzfunktion für Carlotta einzunehmen, und sie legte beruhigend eine Hand auf die Schulter des Vogelmädchens, als sie neben ihm stehen blieb.
Auch die Tierärztin schaute durch die Scheibe, ohne jedoch etwas Konkretes erkennen zu können. »Tut mir leid, aber ich sehe nichts.«
»Du musst nach links schauen. Etwas nur.«
»Okay.«
Maxine strengte sich an. Es war ja keine finstere Nacht. Der Himmel zeigte noch helle Streifen, und ein kaltes Grau flutete über das Grundstück hinweg.
In diesem Grau stand jemand!
Ein Mensch! Oder?
Plötzlich war sich die Tierärztin nicht mehr sicher. Zwar besaß die Gestalt menschliche Umrisse, aber sie war größer als ein Mensch und wirkte unheimlich und bösartig. Auf dem Körper verteilte sich eine gewisse Helligkeit, die eigentlich keine war. Trotzdem war die Haut zu sehen, und Maxine nahm jetzt an, dass sie eine nackte Gestalt vor sich hatte, die trotzdem etwas verwachsen wirkte, weil über ihre Schulterblätter etwas hinwegragte.
Das Gesicht war nicht zu sehen. Man konnte es ahnen. Auch es sah bleich aus, und an beiden Seiten fielen die langen Haare nach unten, die bis zu den Schultern reichten. Sie wiederum kamen der Betrachterin recht breit vor, und sie waren auch nackt.
»Mein Gott«, flüsterte sie, »wer ist das?«
»Das weiß ich nicht«, gab Carlotta ebenso leise zurück. »Aber er macht mir Angst. Ich habe kaum jemals eine so große Angst vor jemandem gehabt. Ich habe zuvor die beiden Blitze gesehen, die aus dem Himmel fuhren. Danach war er dann da. Als wäre er aus den Blitzen entstanden. Furchtbar ist das, Maxine.«
»Ja, ich weiß, das spüre ich auch. Am besten wäre es, wenn wir fliehen würden und...«
»Das können wir nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil...«, sie schüttelte den Kopf. »Weil es nicht geht. Schau dir mal seine Schultern an. Über beide ragt etwas hinweg. Siehst du das? Kannst du diese abgerundeten Ecken erkennen?«
»Ja, das kann ich.«
»Dann sag mir, was es ist.«
»Flügel«, flüsterte die Frau. »Es sind die Enden der Flügel, die die Gestalt besitzt.«
»Genau das, Max. Flügel, wie bei mir. Wie bei dem toten Engel. Aber er wird sich nicht umbringen, das spüre ich. Er steht da und lauert. Und irgendwann wird er seine Chance bekommen. Ich habe ihn auch noch nie zuvor gesehen und auch nichts von ihm gehört. Aber er kann nur ein Höllenwesen sein. Ich spüre seine Macht. Er... er will mich klein machen. Er hat Zeit...«
»Gut, das ist ein Stichwort. Wenn nichts geschieht, können wir die Zeit nutzen.«
»Was willst du tun?«
»Ganz einfach. Ich rufe noch mal John Sinclair an. Ich beschreibe ihm die Gestalt. Vielleicht kennt er sie ja und kann uns raten, wie wir uns verhalten sollen.«
»Dann warte ich so lange hier.«
»Okay.«
Die Tierärztin
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