Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
kollegial. Andrea kam fünfeinhalb Wochen zu früh. Die sechs Wochen, die man vor der Geburt freihat, hatte ich nutzen wollen, um einiges aufzuarbeiten. Ich hatte mir dicke Akten mit nach Hause genommen, wollte vier umfassende Urteile schreiben, und dann blieben sie erst mal liegen. Als Andrea auf der Welt war, rief ich Engelschall an: »Die Kleine hatte es eilig. Jetzt liege ich hier in der Klinik – was machen wir mit den Urteilen?« Er sagte nicht: »Ist doch Ihre Sache! Was kann ich dafür, wenn Sie ein Kind kriegen?« Nein, im Gegenteil, er schlug vor, dass wir uns die Arbeit teilten. Er zwei Urteile, ich zwei Urteile: So haben wir es gemacht.
Einige Wochen nach der Entbindung kam ich ans Oberlandesgericht, unsere Wege trennten sich. In mein Zeugnis schrieb Engelschall: »Über lange Zeit war sie der einzige Mann an der Kammer.« Das aus seiner Feder – ein großes Lob! Ich wusste, was er meinte, und freute mich über die Anerkennung. Gut möglich, dass ich ihm von Anfang an sympathisch war. Wie wir heute wissen, entscheidet der erste Augenblick einer Begegnung über Sympathie und Antipathie. Es hatte ihm sicher imponiert, dass ich mich in die Höhle des Löwen gewagt hatte. Und dann noch mit so einer frechen Bemerkung! – »Ich habe gehört, Sie möchten an Ihrer Kammer gern eine Frau haben. Ihnen kann geholfen werden!« Aber er konnte bei unserer ersten Begegnung selbstverständlich nicht sagen: »Ich finde Sie interessant.« Das höchste der Gefühle war, die Worte »Na ja, okay, versuchen wir es« durch das Gehege seiner Zähne zu quetschen.
Wiederbegegnet sind wir uns zum Beispiel 1978, als ich Alice Schwarzer bei ihrem Prozess gegen den Stern beriet und begleitete. Es ging um Pornographie auf Titelbildern, unter anderem um einen Titel, auf dem eine fahrradfahrende Frau mit fast nacktem Po von hinten zu sehen war. Alice vertrat die Meinung, man müsse dringend etwas gegen die zunehmende Frauendiskriminierung in den Medien tun, und ich teilte ihre Meinung. Von vornherein wussten wir, dass der Prozess nicht zu gewinnen war, denn es gab kein Antidiskriminierungsgesetz. Aber wir wollten auf die Problematik aufmerksam machen. Da der Stern in Hamburg erschien, landete die Klage natürlich bei Manfred Engelschall. Alice Schwarzer klagte zusammen mit neun prominenten Frauen, darunter Erika Pluhar, Inge Meysel, Margarethe von Trotta. Sehr schnell begriff der Richter, dass es sich um einen Schauprozess handelte. Er musste die Klage abweisen, aber er nutzte die Gelegenheit und das große Medieninteresse, um klarzumachen, dass das Anliegen berechtigt war. Er erklärte, dass Handlungsbedarf bestand – ein Gesetz musste geschaffen werden, um gegen derartige diskriminierende Veröffentlichungen vorgehen zu können. Obwohl Engelschall eher konservativ eingestellt war, hatte er doch ein ausgeprägtes Gespür dafür, welche Änderungen notwendig waren, um für Gerechtigkeit und Menschenwürde zu sorgen.
Zu seinem 85. Geburtstag wurde für ihn ein ganzes Theater gemietet, die Hamburger Kammerspiele. Ich bekam die ehrenvolle Aufgabe übertragen, die Laudatio auf ihn zu halten, und erzählte die obenerwähnten Geschichten. Engelschall saß in der ersten Reihe und freute sich darüber, wie ich ihn vor vollen Rängen beschrieb: als außerordentlichen Juristen, als eigenwillige Persönlichkeit und guten, hilfsbereiten Freund, dem ich von Beginn an mutig und selbstbewusst, aber stets höflich begegnet war.
Alles wurzelt in der Kindheit
In einer meiner frühesten Erinnerungen sitze ich auf dem Balkon und wühle in einem Kasten mit Erde. Ich bin noch klein, im Vorschulalter. Ich bin allein, habe meine Ruhe, ich bin glücklich.
Normalerweise spielten die Stadtkinder nachmittags auf der Straße, zusammen mit ihren Freunden aus dem Kindergarten und der Nachbarschaft. Nur ich hatte darauf überhaupt keine Lust. Mit dem Geschrei und Getobe der anderen Kinder konnte ich nichts anfangen. Meine Mutter akzeptierte das. Was sie aber nicht akzeptierte, war, wenn ich den ganzen Tag in der Wohnung saß. »Du musst auch mal an die frische Luft!«, sagte sie – und ließ sich etwas einfallen. Wir lebten in Hamburg-Eilbek, hatten eine herrliche Wohnung mit fünf Zimmern und drei Balkonen. Eigentlich überstieg diese Wohnung unsere finanziellen Verhältnisse, aber meine Mutter stammte aus einem großbürgerlichen Haus und konnte sich nicht vorstellen, auf wenigen Quadratmetern zu leben. Für mich hatte das unter anderem den Vorteil, dass
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