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Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Titel: Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lore Maria Peschel-Gutzeit
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immer brav zu sein – von kleinen Jungen wurde geradezu erwartet, dass sie hin und wieder frech waren. Mädchen sollten immer hübsch aussehen in ihren niedlichen Kleidchen – Jungen trugen praktische Hosen und durften sich auch mal schmutzig machen. Weinende Mädchen erregten Mitleid – weinende Jungen lachte man aus. Schon früh in der Kindheit waren mir all die sinnlosen Widersprüche und Ungerechtigkeiten geläufig. Aber sie berührten mich nicht. Ich fühlte mich davon nicht betroffen und handelte nicht danach.
    Von klein auf war ich mit einem unerschütterlichen Selbst wertgefühl gesegnet, das bisweilen wie ein unsichtbarer Schutzanzug funktionierte, ein Anti-Diskriminierungs-Anzug. Ich wurde diskriminiert – als kleines Mädchen, als Jugendliche, als Studentin und auch später noch, zweifellos. Nur drang die Diskriminierung nicht in mein Inneres vor. Woher ich dieses unerschütterliche Selbstwertgefühl hatte, weiß ich nicht. Aber ich weiß sehr wohl, dass die Vermittlung von Selbstwertgefühl an unsere Töchter und Söhne einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zur Gleichstellung ist. Mädchen brauchen es unter anderem, um ihre Begabungen zu erkennen, zu nutzen und weiter auszubilden. Sie brauchen es auch, um nötige Konflikte zu erkennen und auszutragen. Jungen brauchen Selbstwertgefühl, um begabte, energische und konfliktbereite Mädchen nicht als Bedrohung zu empfinden. Und jeder braucht Selbstwertgefühl, um glücklich zu sein.
    Einen großen Teil des Selbstvertrauens hatte ich sicher meiner Mutter zu verdanken. Für damalige Verhältnisse erzog sie Ursula und mich sehr freiheitlich, sie argumentierte, statt zu dressieren, wie es üblich war. Dadurch, dass sie unsere Persönlichkeiten anerkannte, ließ sie für Selbstzweifel wenig Raum.

    Als sachlicher und argumentativer Mensch habe ich mich bemüht, auch meine eigenen drei Kinder mit Argumenten zu erziehen statt mit unerklärten Anordnungen oder womöglich mit Gewalt. »Ist Ihnen wirklich nie die Hand ausgerutscht?«, werde ich oft gefragt, und ich verneine selbstverständlich. Gewalt in der Erziehung liegt weit außerhalb des für mich Denkbaren und Machbaren. Wie können Eltern damit leben, dass sie ihren Kindern physischen Schaden zufügen? Und woher nehmen sie das moralische Recht dazu? Das ist mir immer schleierhaft gewesen.
    Rein juristisch hatten Eltern in Deutschland bis Ende des Jahres 2000 das Recht, ihre Kinder zu schlagen. Mit dem Deutschen Juristinnenbund, dem ich seit 1956 angehöre, forderten wir schon in den siebziger Jahren ein gesetzliches Verbot der elterlichen Gewalt gegen Kinder, was damals noch aussichtslos schien. Man muss, wenn es um die Durchsetzung neuer Gesetze und Rechte geht, einen sehr langen Atem haben, muss sich seiner Sache sicher sein und wissen, dass die Regelung nötig ist und kommen wird.
    Die Anwendung körperlicher Gewalt war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch sehr verbreitet und gesetzlich legitimiert. Der Lehrherr durfte den Lehrling schlagen, der Lehrer den Schüler und der Ehemann die Ehefrau. So stand es ausdrücklich im Gesetz, erst im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden diese Rechte abgeschafft. Übrig blieb nur das Kind, das gesetzlich zugelassene Schläge der Eltern einstecken musste. Es gab grauenhafte Gerichtsentscheidungen. Einmal ging es um einen Vater, der seine sechzehnjährige Tochter mit dem Gartenschlauch geschlagen hatte, weil sie einen Freund hatte. Der Vater wurde angeklagt wegen Körperverletzung – und dann freigesprochen, weil er laut Bundesgerichtshof ein Gewohnheitsrecht wahrgenommen hatte. Nicht im Mittelalter! Sondern im 20. Jahrhundert.
    Der Deutsche Juristinnenbund meldete sich mit hartnäckiger Regelmäßigkeit zu Wort: Ein ausdrückliches Gewaltverbot muss in das Gesetz! Als wir hierzu im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages angehört wurden, sagte der Vorsitzende: »Na ja, Frau Peschel-Gutzeit, haben Sie erst einmal Kinder, dann verstehen Sie, warum einem manchmal die Hand ausrutscht.« Zu dem Zeitpunkt war ich allerdings schon Mutter dreier Kinder, weshalb ich entgegnete: »Darf ich fragen, Herr Vorsitzender, wie viele Kinder Sie haben?«
    »Ich habe vier.«
    »Gut, in Höhe von drei Kindern können wir aufrechnen, die habe ich auch, ich schlage sie nie. Und ich denke nicht, dass es bei Ihnen allein am vierten Kind liegt, wenn Ihnen die Hand ausrutscht!«
    Immer wieder wurde ich zu dem Thema befragt. Oft kam das Gespräch auch im privaten Rahmen

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