Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
Beispiel von dem langen Säbel, den die Offiziere trugen. Als »Beinbrecher« bezeichnete er ihn, denn wenn man nicht aufpasste, war der Säbel beim Gehen immer im Weg. Meine Schwester Ursula und ich mussten sehr lachen darüber, wie er mit einem imaginären Säbel zwischen den Beinen vor uns herumstolperte. Vor allem mir schenkte unser Vater viel Aufmerksamkeit, wenn er zu Hause war. Er liebte mich innig, und manchmal denke ich, dass er in mir ein bisschen den Sohn sah, den er nicht hatte.
Der Zuständigkeitsbereich unserer Mutter beschränkte sich nicht auf den Haushalt und die Kindererziehung; sie ging zudem einer bezahlten Tätigkeit nach. Offiziere verdienten nämlich nicht viel außer der Ehre, ihr Sold war gering. Die meisten kamen aus begüterten Familien, die sie unterstützten; nicht so mein Vater, der gutbürgerlichen, aber keinen reichen Verhältnissen entstammte. Doch ohnehin hätte meine Mutter ihren Beruf nicht aufgegeben, dafür war ihr die Arbeit, die Aufgabe, zu wichtig – und auch: zu selbstverständlich. Schon ihre Mutter war berufstätig gewesen, sie kannte es nicht anders.
Unsere Mutter arbeitete als Lehrerin, Grund - und Realschullehrerin - also in einem der wenigen typischen Frauenberufe in ihrer Generation. Sie liebte ihren Beruf, war eine sehr gute, beliebte Lehrerin. Und eine sehr engagierte. Vier Wochen nach meiner Geburt hatte sie schon wieder vor der Klasse gestanden.
Ihre pädagogische Ausbildung und Erfahrung, ihr feines Gespür für Kinderpersönlichkeiten waren mein Glück. Denn als kleines Kind fand ich kaum etwas von dem, was in der Schule oder sonst wo in meiner Umgebung passierte, richtig interessant. Vieles schien mir lästig, vieles unnötig. Bis meine Mutter gegen Ende des zweiten Schuljahrs erkannte, was mit mir los war. Sie sah, dass ich blitzgescheit war, alles begriff und mich furchtbar langweilte. Sie schloss daraus, dass ich unterfordert war. »Das Kind muss arbeiten lernen, aber so wird nichts daraus«, befand sie. »Deshalb muss Lore eine Klasse überspringen.« Das war damals ungewöhnlich, aber als Lehrerin, die zudem in der Schule arbeitete, die ich besuchte, konnte sie sich durchsetzen.
Als wir später einmal über meine verträumten Jahre sprachen, sagte meine Mutter: »Ich denke, du hast sehr viele Dinge auf einmal wahrgenommen und musstest diese vielen Eindrücke in deinem Innern verarbeiten. Darum warst du so in dich gekehrt und wirktest so verträumt.« Vermutlich war dies auch der Grund dafür, dass ich als Kleinkind nicht mit der Sprache herausgerückt war: Immer hatte ich aufmerksam zugehört und mehr verstanden, als für meine Ohren gedacht war. Ich musste es in eine Ordnung bringen, bevor ich mich selbst zu Wort melden konnte.
Nachdem ich dank meiner Mutter von der zweiten in die vierte Klasse versetzt worden war, sah ich mich zum ersten Mal mit Herausforderungen konfrontiert. Beipielsweise hatten die anderen Kinder im dritten Schuljahr die lateinische Schrift erlernt, ich konnte nur Druck - und Sütterlinschrift. Jetzt wurde es also interessant, aber nur für ein Vierteljahr. Dann brachen die Zeiten der Kinderlandverschickungen an.
Im Mai 1940 fielen die ersten Bomben auf Hamburg. Immer öfter gab es Fliegerangriffe in der Nacht, ständig heulten die Sirenen, und wir mussten raus aus den Betten, uns etwas überziehen und in den Keller verschwinden. Das hatte kein Kind gern, ich schon gar nicht, denn man sollte sich immer beeilen, und ich war doch so langsam. »Jetzt sieh endlich zu, dass du in den Keller kommst!«, rief meine Mutter. Sie hatte Angst vor den Bomben, aber auch vor dem Blockwart. Der ging durch die Häuser und kontrollierte, ob alle im Keller waren. Wehe, wenn nicht! Dann gab es Ärger mit der Blockleitung, also der Partei.
Unsere Mutter stand den Nazis und dem Krieg kritisch gegenüber. Diese Haltung hatte sie auch unserem Vater gegenüber immer wieder verteidigt. Aber sie war auch klug genug, um uns Kindern klarzumachen, dass man sich außerhalb der Wohnung besser nicht abschätzig über die Nazis äußerte. »Sonst könnte es passieren, dass nachts Männer in Ledermänteln kommen und einen abholen«, erklärte sie uns. »Das wollen wir doch nicht. Wir wollen doch zusammenbleiben!«
Um die Kinder vor Bombenangriffen zu schützen, begannen die Kinderlandverschickungen (KLV). Klassen oder auch ganze Schulen wurden zusammen mit den Lehrern aus den vom Krieg bedrohten Großstädten umgesiedelt in kleinere, weniger gefährdete Orte,
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