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Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Titel: Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lore Maria Peschel-Gutzeit
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zum Beispiel in Österreich, Pommern oder Ostbayern. Dort lebten die Kinder, Jugendlichen und Lehrer in gemeinsamen Unterkünften, und dort fand auch der Unterricht statt. Hotels, Jugendherbergen, Gasthöfe, Schulgebäude und andere Einrichtungen wurden zu KLV-Lagern umfunktioniert. Die Aufenthalte dauerten von einigen Monaten bis hin zu mehreren Jahren. Für die Nazis hatte das den nützlichen Nebeneffekt, Kinder und Jugendliche dem Elternhaus zu entziehen und sie in ihrem ideologischen Sinne erziehen zu können. Die Kinderlandverschickungen wurden von der Hitlerjugend organisiert. In den Lagern hatten neben den Lehrern vor allem HJ-Führer das Sagen.
    Meine Schwester Ursula besuchte damals schon das Gymnasium und kam nach Oberbayern ins Kloster Ettal. Ich war erst acht Jahre alt und damit noch zu jung für die Kinderlandverschickung. Aber unsere Mutter wurde als Lehrerin in ein Kinderlager bei Freising, nördlich von München, versetzt. Weil ich nicht allein zu Hause bleiben konnte, kam ich mit und besuchte die dortige Schule, wo erstmals meine Freude an Sprachen zum Ausdruck kam. Später lernte ich Englisch, Latein und Französisch – in Süddeutschland eignete ich mir den Dialekt an, bis heute spreche ich fließend Bayerisch. Ansonsten brachte mir der Schulbesuch dort nicht viel. Die Schulbücher waren andere als in Hamburg, es gab ein völlig anderes Lernprogramm.
    Als wir nach einem halben Jahr in den Norden zurückkehrten, meldete meine Mutter mich zur Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium an, das man damals Oberschule nannte. Obwohl ich nur zweieinviertel Jahre in Hamburg zur Schule gegangen war, hatte ich keine Angst vor den Prüfungen. Ich wusste, dass die Oberschule für mich wie für Ursula die richtige Schule war. Das einzige Fach, mit dem ich nie zurande kam, war Sport. In der Nazizeit galt das als großer Makel. Die Jugend musste einen strammen, sportlichen Körper haben, das Geistige zählte vergleichsweise wenig. Aber ich war total unsportlich und bin es bis heute geblieben. Wann immer möglich, drückte ich mich vor dem Sportunterricht. Gern wäre ich sportlich gewesen, aber ich wusste: Sosehr ich mich auch anstrengen würde, meine Leistungen würden mangelhaft bleiben, sie würden den Ansprüchen – auch und vor allem meinen eigenen Ansprüchen – nicht genügen. Auch als Erwachsene führte ich ein Leben ohne aktiven Sport. Ganz wie Churchill: No sports! Obwohl ich sportliche Leistungen sehr bewundere.
    Relativ ruhig fuhr ich in die Hamburger Klosterschule zur Aufnahmeprüfung für die Oberschule – und es kamen lauter Aufgaben, die ich nicht lösen konnte: wie Dividieren und Multiplizieren zum Beispiel. Ich schrieb daneben: »Das habe ich nie gelernt.« Man hätte das frech finden können von einer Neunjährigen, aber mir erschien die Antwort vollkommen angemessen und logisch. Zum Glück waren die Prüfer feinfühlige Pädagogen. Sie werteten die Einsicht, eine Aufgabe nicht bewältigen zu können, genauso als einen Ausdruck von Intelligenz wie die perfekte Lösung. Und trotz fehlender Lösungen erteilten sie mir die Zulassung zum Besuch der Oberschule.
    »Das habe ich nicht gelernt, also nützt auch Nachdenken nichts, ich kann die Aufgabe nicht lösen.« – Solche Denkweisen und das Selbstbewusstsein, das dahintersteht, werden bei Mädchen bis heute zu wenig gefördert, wenn nicht gar unterdrückt. Was kann ich? Was kann ich nicht? Warum kann ich es nicht? Sollte ich es lernen? Möchte ich? Wie und wo werde ich es lernen? Und so weiter. Dieser ganz sachliche, selbstverständliche Umgang mit Können, Wissen, Bildung führt zu mehr Selbstwertgefühl.
    Ein gutes Selbstwertgefühl ist nach meiner Erfahrung eine der wichtigsten Voraussetzungen, um sich die Gleichwertigkeit aller Menschen bewusst zu machen und sich entsprechend zu verhalten. Und gelebte Gleichwertigkeit ist nichts anderes als Gleichberechtigung – auch und gerade zwischen den Geschlechtern. Männer und Frauen sind in mancherlei Hinsicht verschieden, aber sie sind in jeder Hinsicht gleich viel wert. Leider ist das in unserer Gesellschaft bis heute kein allgemeiner Konsens, und in meiner Kindheit waren wir noch viel weiter von der Gleichstellung entfernt. Die ersten Erfolge der jungen Gleichstellungsbewegung wurden von den Nazis zunichtegemacht. Ihrer Ideologie zufolge beschränkte sich der Sinn eines Frauenlebens in allererster Linie auf das Mutterdasein.
    Auch für Kinder galten diskriminierende soziale Normen: Kleine Mädchen hatten

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