Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
entwickeln. Das alles finde ich gut und nachvollziehbar – und Grund genug, sich selbst zu erforschen: Warum fehlt mir die Kraft nur, wenn es um meinen Beruf, mein Vorankommen geht? Vielleicht, weil ich in Frieden mit meinen Kollegen leben möchte? Weil ich nicht auffallen möchte? Weil ich Angst vor Verantwortung habe?
Dass ich in relativ hohem Alter relativ viel Kraft habe für meine Arbeit, meine Kinder und Enkel und viele verschiedene Aktivitäten, Ziele und Verantwortlichkeiten, verdanke ich wohl auch dem jahrzehntelangen Konditionstraining, das ich in früheren Jahrzehnten absolvierte. Alleinerziehend, voll berufstätig, in verschiedenen Bereichen ehrenamtlich engagiert, zu Hause für alles allein zuständig, vom tropfenden Wasserhahn über Autoreparaturen bis hin zur Gartenpflege: Wer das alles schafft, mal besser, mal schlechter, vom 1. Januar bis zum 31. Dezember und von null bis 24 Uhr, dem geht auch in späteren Jahren nicht so schnell die Puste aus.
Natürlich erlebte ich – wie jeder andere Mensch auch – Momente der Schwäche, der Müdigkeit und des Grübelns. Wofür reibe ich mich so auf? Hat das alles einen Sinn? Solche Fragen stellte ich mir ernsthaft und kam doch nie zu dem Schluss, aufzugeben. Das Recht darauf, abgespannt zu sein, gestand ich mir zu, denn vieles in meinem Leben war wirklich anstrengend, kräftezehrend, manches auch enttäuschend. Infolgedessen durfte ich bisweilen müde sein, ich bin keine Superwoman. Aber recht schnell musste dann auch wieder Schluss sein mit der Müdigkeit. Nun mal weiter!, sagte ich zu mir selbst. Nie habe ich an meinen hauptsächlichen Zielen gezweifelt, Zielen wie der sozialen Gerechtigkeit, der Emanzipation, der Stärkung der Rechte von Kindern. Meine unverrückbaren Überzeugungen, gepaart mit der großen Freude an meinem Beruf, an meinen Kindern und Enkeln befeuern bis heute mein inneres Kraftwerk. Zudem besitze ich die Gabe, mich relativ schnell entspannen zu können. Wenn ich nach Hause komme, trinke ich gern ein Glas guten Wein. Ich setze mich hin, atme tief durch, nehme einen Schluck, und schon fällt die Last des Tages von mir ab. Andere gehen spazieren, meditieren oder treiben Sport. Das Ergebnis ist das gleiche: herunterkommen, auf andere Gedanken kommen. Die Probleme, die ich tagsüber nicht lösen konnte, werde ich auch am Abend nicht bewältigen. Also lasse ich sie ruhen bis zum nächsten Tag.
Ein weiterer Weg, Entspannung zu finden, ist für mich das Autofahren. Als Senatorin hatte ich einen Dienstwagen mit Fahrer, war aber auch immer wieder froh, wenn ich in der Freizeit selbst fahren konnte. Am Steuer fühle ich mich unbeschwert und glücklich. Bei wenig Verkehr und hoher Geschwindigkeit breitet sich in mir die Empfindung großer Freiheit aus. Als könnte ich nach Lust und Laune immer weiterfahren, von hier bis ans Ende der Welt, und keiner hält mich auf.
Diese Klarheit, diese Schönheit. Kein Ton zu viel oder zu wenig, kein Ton zu lang oder zu kurz, kein Schnörkel, kein Pathos, kein Bombast. Und doch so unendlich viel Gefühl – in der Musik von Johann Sebastian Bach. Ich kann mich darin verlieren, ich gehe darin auf. Die Kompositionen ähneln für mich der lateinischen Sprache, auch sie fasziniert mich dank ihrer klaren Strukturen. Seit meiner Jugend begleiten mich Bachs Klänge durch die schönsten und schwersten Zeiten.
Generell ist Musik für mich eine große Leidenschaft, sie spendet mir Trost, Freude, Mut und Kraft. Mozarts Sinfonien und Klavierkonzerte wecken Glücksgefühle in mir, wenn ich traurig oder abgespannt bin. Vivaldis Vier Jahreszeiten machen das Leben leichter, vergnüglicher, schöner. Solch eine Leidenschaft ist ein Geschenk. Wer sie gefunden hat, sollte sie pflegen.
Schon als kleines Kind liebte ich Musik. Ab dem Kindergartenalter sang ich im Kinderchor des Rundfunks. Kam ich von der Grundschule nach Hause, kurbelte ich immer gleich das Grammophon an und hörte Rossinis Ouvertüren: Die diebische Elster , Der Barbier von Sevilla , Wilhelm Tell … Noch immer kann ich sie alle mitsingen. Die restliche Familie konnte damit nicht viel anfangen, ließ mich aber gewähren. Meine ganze Kindheit und Jugend über sang ich in Chören, auf dem Gymnasium gründete ich zusammen mit meiner Freundin Corry einen Klassenchor. Wie gesagt, fiel es mir trotz größter Bemühungen schwer, Noten zu lesen, da ich an einer Störung namens Notenlegasthenie leide. Zum Glück hatte ich sehr musikalische und geduldige Freundinnen: Eine
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