Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
fristen. Viertens stand mir meine Körpergröße im Wege, mit 1,78 Metern überragte ich viele männliche Sänger.
Ob man an einer Weggabelung den richtigen oder den falschen Weg eingeschlagen hat, kann man im Nachhinein meist nicht sagen – man weiß ja nicht, was am Ende des anderen Wegs gekommen wäre. Auch ist es nicht meine Art, über das »Was wäre gewesen, wenn …« zu grübeln oder »Ach, hättest du bloß« zu denken. Wer es übertreibt, vergiftet sich damit das Leben. Vielleicht wäre der Gesang meine große Erfüllung gewesen – doch große Erfüllung fand ich auch als Richterin und als Anwältin. Ich habe viele berühmte Sängerinnen kennengelernt, mit manchen war oder bin ich befreundet, darunter Martha Mödl. Daher weiß ich, dass der Weg durch die Opernwelt ein schwerer ist, selbst für die begnadetsten Sängerinnen.
So blieb Musik meine private Leidenschaft. Das Singen im Chor und mit Klavierbegleitung gab ich auf, mir fehlte die Zeit dafür, aber mit meinen Kindern habe ich immer viel gesungen. Als sie klein waren, hatten wir noch kein Autoradio, und wenn wir große Fahrten machten, sangen wir die ganze Zeit. Noch heute können meine Kinder zig Volkslieder auswendig singen. Manchmal singen Andrea und ich meinem Enkel Simon etwas vor. Dann schaut er immer ganz beeindruckt von einer zur anderen, voller Erstaunen darüber, wie viele Strophen wir kennen.
Meine Musikbegeisterung ist mir zum Glück ein Leben lang erhalten geblieben, zum Musikhören fand ich immer noch Zeit, und wenn es nur für zehn Minuten vor dem Schlafengehen war. Ob Kammer– oder Orchestermusik, ob Lied oder Oper: Musik ist mein alltäglicher Luxus – und einer der Stoffe, mit denen ich mein inneres Kraftwerk betanke.
Ein einziges Mal in meinem Leben war plötzlich Stillstand. Bei den praktischen Familienaufgaben und im Beruf funktionierte ich noch so eben und eben, aber in meinem Innern war eine große Leere, Hoffnungslosigkeit, die totale emotionale Erschöpfung. Da half auch keine Musik mehr. Erst jetzt, während ich dieses Buch schreibe, fällt mir die Episode wieder ein. Seit einer kleinen Ewigkeit habe ich nicht mehr daran gedacht. Darüber gesprochen habe ich nur mit sehr wenigen, sehr engen Freunden.
Eines Abends saß ich zusammen mit einem Ehepaar, mit dem mich eine langjährige Freundschaft verband. Wir tranken Wein, die beiden erzählten fröhlich, ich starrte gedankenverloren vor mich hin. »Lore, was ist los mit dir? Geht es dir nicht gut?« Ich starrte weiter, schweigend, minutenlang. Dann liefen Tränen über mein Gesicht, aber ich gab keinen Ton von mir. »Lore, meine Liebe, was machst du für Sachen?« Meine Freundin nahm mich fest in den Arm, ich weinte noch mehr, fing laut an zu schluchzen und schämte mich furchtbar. Ganz zaghaft, mit leiser, brüchiger Stimme begann ich, die einfühlsamen Fragen meiner Freunde zu beantworten. Irgendwann spät in der Nacht strömte es dann aus mir heraus: dass ich mich einsam und hilflos fühlte ; dass ich Versagensangst hatte ; dass meine Arbeit im Gericht sich stapelte und ich nicht mehr wusste, wie ich sie bewältigen sollte ; dass meine Kollegen mich deshalb beim Gerichtspräsidenten angeschwärzt hatten ; dass ich voller Enttäuschung und Traurigkeit war ; dass ich mir schwere Vorwürfe machte … Als wir uns am frühen Morgen voneinander verabschiedeten, nahmen meine Freunde mir das Versprechen ab, zum Arzt zu gehen.
Meine Hausärztin überwies mich an eine Psychiaterin, die eine reaktive Depression diagnostizierte. Einige Monate zuvor hatte ich mich scheiden lassen, hinter mir lagen kräftezehrende Monate – sowie mehrere Jahre, in denen meine Ehe mehr Belastung als Bereicherung gewesen war. Zum Ausbruch kam die Depression, kurz nachdem mein Vorsitzender Richter und meine Beisitzerkollegen beim Präsidenten des OLG aufgetaucht waren, um sich über meine mangelhaften Leistungen zu beschweren. Sie hatten mich völlig übergangen, nicht ein Wort der Kritik hatte ich von ihnen gehört, sie waren direkt zum Präsidenten gegangen. Der wiederum beauftragte seinen Vize, mit mir zu sprechen.
Man hört heute so oft vom Burnout-Syndrom – ich denke, mein Problem war ein ähnliches. Mit einem Medikament und einigen psychotherapeutischen Sitzungen konnte ich Gott sei Dank bald stabilisiert werden. Ich hatte das Glück, medizinisch und psychologisch gut betreut zu sein. Keinen einzigen Tag musste ich aufgrund der Krise bei der Arbeit fehlen. Eine Krankschreibung
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