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Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Titel: Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lore Maria Peschel-Gutzeit
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hätte mir psychisch zusätzlich geschadet und mein ohnehin angekratztes Ansehen im Senat noch weiter verschlechtert.
    Der Vizepräsident des OLG half mir sehr, er führte ein langes, verständnisvolles Gespräch mit mir. Er sagte: »Frau Peschel-Gutzeit, wir alle kennen und schätzen Sie. Sie sind eine gute Richterin in einer schwierigen Situation. Lassen Sie uns gemeinsam schauen, wie Sie da wieder herauskommen.« Da er älter war und mehr Berufserfahrung hatte als ich, konnte er mir wertvolle Ratschläge geben, wie ich die Arbeit, die sich angesammelt hatte, schaffen würde. In den folgenden Monaten arbeitete ich noch mehr Stunden als sonst und nach einem neuen System. Mit der Folge, dass ich bald wieder Land sah. Die Aktenberge schwanden, und als ich meine psychische Krise bewältigt hatte, war ich auch mit der Arbeit auf dem Laufenden.
    Es fällt mir schwer, an diese Zeit zu denken und davon zu berichten. Ich tue es dennoch, weil ich zeigen möchte, dass auch starke, zielstrebige und fleißige Menschen plötzlich dermaßen schwach werden können, dass sie sich selbst nicht mehr zu helfen wissen. Das, was mir geholfen hat, wünsche ich auch anderen Menschen in solch schweren Zeiten: gute Freunde, verständnisvolle Kollegen, professionelle Betreuung durch Ärzte, Psychologen oder andere Berater. Außerdem unverzichtbar: die Einsicht, dass man ohne fremde Hilfe nicht mehr weiterkommt.
    Manche Menschen ziehen aus einer derartigen Krise die Konsequenz, in Zukunft weniger zu arbeiten, weniger aktiv zu sein. Für mich wäre diese Maßnahme kontraproduktiv, sie würde mich eher schwermütig machen als erleichtern, denn ich bin sehr gern aktiv. Ob als Richterin, als Politikerin oder Rechtsanwältin: Meine Arbeit habe ich immer als etwas Kreatives angesehen. Bis auf vereinzelte Ausnahmen bin ich an jedem Arbeitstag meines Lebens morgens gern an meinen Arbeitsplatz gefahren. Ich hatte und habe Lust auf meine Arbeit. Mein Pensum zu reduzieren hieße, meinem inneren Kraftwerk den Kraftstoff zu entziehen.
    Meine Arbeitstage sind montags bis freitags etwa elf Stunden lang, das bekomme ich gut hin, weil ich keine Mittagspausen mache. Hinzu kommt ein weiterer Arbeitstag an den meisten Wochenenden. Dann nutze ich die Ruhe, kein Telefon klingelt, ich bin ganz allein im Büro, schaffe ordentlich was weg, das macht mir Freude. Am Ende der Woche sind es insgesamt etwa fünfzig bis sechzig Stunden, die ich gearbeitet habe. Hinzu kommen ehrenamtliche Tätigkeiten, Besprechungen, Veröffentlichungen, Kongresse, Vorträge, Empfänge, Feiern und mehr. All das mache ich gern, nur bedaure ich immer wieder, dass ich nicht öfter in die Oper und in Konzerte gehe. Die Kultur bleibt manchmal auf der Strecke. Aber ich kann es nicht ändern, auch mein Tag ist begrenzt, ich brauche jedenfalls fünf bis sechs Stunden Schlaf.
    Mir mein Leben gemütlich zu gestalten kam für mich noch nie in Frage. Und ich wüsste nicht, warum ich jetzt damit anfangen sollte. Es gibt noch so vieles zu sehen, zu erleben, zu lernen, zu erreichen und zu verbessern. Selbst drei Leben würden dafür nicht ausreichen. Ich aber habe nur dieses eine Leben. Da packe ich hinein, was hineinpasst.

Faszination Politik
    Jahrzehntelang war ich davon überzeugt, es sei für mich als Richterin geboten, auf die Mitgliedschaft in einer politischen Partei zu verzichten. Diese Überzeugung vertrug sich allerdings nicht gut mit meinem gesellschaftspolitischen Bewusstsein und Engagement. Seit den sechziger Jahren war ich aktiv in der Rechtspolitik tätig, brachte viele Gesetzesreformen mit auf den Weg, sei es im Familienrecht, sei es im Staatsangehörigkeits-, Renten-, Jugendhilfe - oder Steuerrecht. Dabei machte ich immer wieder die Erfahrung, dass die Verbände, mit denen ich rechtspolitisch zusammenarbeitete, an Grenzen stießen. Ein Verband wie zum Beispiel der Deutsche Juristinnenbund hat bekanntlich kein Antragsrecht im Bundestag. Will er sein Anliegen in den Bundestag einbringen, braucht er Fürsprecher: eine Abgeordnete oder einen Abgeordneten, der die Idee übernimmt. Diesen Umweg gehen zu müssen, habe ich immer als unbefriedigend empfunden, aber es ergibt sich aus dem politischen System.
    Im Grundgesetz heißt es: »Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.« (Artikel 21, Absatz 1) In der Wirklichkeit liegt der Prozess der Willensbildung vor allem, um nicht zu sagen ausschließlich, bei den Parteien.
    Immer wieder stellte ich mir die Frage: Soll ich

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