Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
von ihnen war Luise, die Musik studierte und Pianistin wurde. Sie übte mit mir die Melodien, bis ich sie auswendig konnte. Im Chor sang ich die Matthäuspassion auswendig, und zu Hause, einfach nur zum Spaß, sang ich Schuberts Schöne Müllerin , den ganzen Liederzyklus, mit Text, aber ohne Noten.
Als nach dem Krieg in Hamburg wieder Opern aufgeführt wurden, besuchte ich jede Woche zwei Opernaufführungen, gemeinsam mit Freundinnen. Das Opernhaus in der Dammtorstraße war im Krieg stark beschädigt worden, der gesamte Zuschauerraum war zerstört. Nur die Bühne, hinter dem eisernen Vorhang, blieb erhalten. Bevor eine neue Staatsoper gebaut wurde, fand der gesamte Betrieb dort statt. Auf der eigentlichen Bühne saßen in dreizehn Reihen die Zuschauer, auf der dahinterliegenden ehemaligen Probebühne spielten und sangen die Künstler. Die Eintrittskarten waren preiswert und hart umkämpft. Deshalb packten wir Freundinnen jeden Samstag gefüllte Thermoskannen und Brote ein, klemmten uns Klapphocker unter den Arm und zogen um 18 Uhr los zur Opernkasse. Dort verbrachten wir die Nacht, in der sich allmählich eine lange Schlange bildete. Am Sonntagmorgen um 10 Uhr öffnete die Kasse, und wir bekamen die ersehnten zwei Karten pro Person. Wir Mädchen waren eine richtige Clique, wir sangen gemeinsam im Chor, waren musikbegeistert und so gut befreundet, dass uns die nächtliche Warterei nichts ausmachte. Viele Opern hörte ich drei, vier Mal oder öfter, sodass ich sie bis heute mitsingen kann. Händels Xerxes und Orpheus und Eurydike von Christoph Willibald Gluck hörte ich in jener Zeit zum ersten Mal. Noch heute gehören sie zu meinen Lieblingsopern. Die Arie des Orpheus habe ich bei verschiedenen Veranstaltungen selbst gesungen.
Zweimal stellte sich mir die Frage, den Gesang zum Beruf zu machen. Das erste Mal zum Ende der Schulzeit, als die Berufsberaterin mir drei Studiengänge zur Auswahl vorschlug, darunter Musik. Das zweite Mal während meiner zwei Semester als Jurastudentin in Freiburg. Meine Freundin Luise lebte und studierte zur selben Zeit dort. Eines Tages nahm sie mich mit in die Musikhochschule, setzte sich an den Flügel und sagte: »Komm, lass uns Schubert singen wie früher zu Hause!« Ich sang, sie begleitete mich, für uns war das gemeinsame Musizieren ein Ausdruck unserer Freundschaft, ein schöner Spaß, mehr nicht. Da hörte ich plötzlich ein Rascheln, ich drehte mich um, ein fremder Mann stand hinten an der Wand. Er hatte unbemerkt den Raum betreten. Er stellte sich als Gesangsprofessor vor und fragte mich, wo ich Gesang studierte. »Gar nicht«, antwortete ich verwirrt. »Ich singe doch nur zum Vergnügen!« Der Professor meinte, für eine Laiin hätte ich eine erstaunlich gute Stimme. Ob ich mir wohl vorstellen könnte, Gesang zu studieren? Die Frage kam für mich völlig überraschend. Ich war mir nicht sicher, ob so ein Wechsel das Richtige für mich war, aber vorstellen konnte ich mir vieles – zumal ich mich im Jurastudium nicht wohlfühlte. Der Professor lud mich zur Aufnahmeprüfung ein.
»Da brauche ich gar nicht erst hinzugehen«, sagte ich zu Luise. »Sie werden mich auffordern, vom Blatt zu singen, und dann ist es vorbei.« – »Gib nicht auf, bevor es losgeht!«, forderte Luise mich auf. »Ich weiß, welche Lieder sie meistens in den Prüfungen hören wollen. Die lernst du jetzt auswendig.« Mit Hilfe meiner Freundin studierte ich etwa zwanzig Lieder ein, und tatsächlich ließen mich die Prüfer kein mir unbekanntes Lied anstimmen. Am Ende der Prüfung sagten sie: »Vielen Dank, Sie haben eine sehr schöne Stimme, wir würden Sie gern weiter ausbilden.«
Ich studierte im dritten Semester Jura, das Studium gefiel mir nicht. Die Stadt Freiburg mochte ich sehr, und die Aussicht auf viele Jahre voller Musik erschien mir äußerst verführerisch. Wochenlang beriet ich mich mit Luise und rang mit mir selbst, lieferte mir einen inneren Schlagabtausch mit überzeugenden Argumenten pro und kontra Jura, pro und kontra Gesang. Am Ende gewann die Rechtswissenschaft, aus folgenden vier Gründen: Erstens konnte ich keine Noten lesen, das wäre irgendwann aufgeflogen. Zweitens bin ich eine geborene Perfektionistin. Ich bezweifelte, dass ich das Zeug zur absoluten Spitzenklasse hatte, und darunter wollte ich es nicht machen. Schon gar nicht in der Kunst. Mittelklassige Künstler gab und gibt es genug. Drittens grauste mich die Vorstellung, ein Dasein als zweite Soubrette in Wuppertal zu
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