Selection
war kurz, knapp drei Kilometer, aber aus Sicherheitsgründen musste ich dorthin chauffiert werden. Meine Schwester Kenna kam mit ihrem Mann James, um mich zu verabschieden, was ich lieb fand, denn sie war schwanger und erschöpft. Auch mein Bruder Kota tauchte auf, sorgte aber eher für Stress als für Entspannung. Als wir zu dem wartenden Wagen gingen, trödelte Kota absichtlich, um sich von Fotografen und anderen Schaulustigen betrachten zu lassen. Dad schüttelte nur den Kopf, und als wir alle im Auto saßen, sprach keiner ein Wort.
Nur May war mir ein Trost. Sie hielt mich an der Hand und versuchte mir ihre Freude einzuflößen. Sie blieb auch dicht bei mir, als wir den Platz betraten, auf dem sich eine riesige Menschenmenge drängte. Offenbar hatte sich ganz Carolina eingefunden, um mir Lebewohl zu sagen oder jedenfalls an dem Spektakel teilzuhaben.
Ich stand auf einer Plattform, und als ich nach unten blickte, fiel mir das unterschiedliche Verhalten der Kasten auf: Margareta Stines war eine Drei, und ihre Eltern und sie starrten mich an, als wollten sie mich umbringen. Tenile Digger, eine Sieben, warf mir Kusshändchen zu. Die höheren Kasten schienen alle böse auf mich zu sein, als hätte ich etwas gestohlen, das ihnen zustand. Von der vierten Kaste an abwärts dagegen feierte man mich – ein Mädchen aus dem Volk, das nun zu den Erwählten gehörte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich sie alle repräsentierte.
Ich hielt mich aufrecht und versuchte allen Blicken standzuhalten. Da ich meine Provinz vertrat, wollte ich unbedingt alles gut und richtig machen. Ich wollte die Beste sein, die Höchste der Niedrigen. Nur so ergab die ganze Sache Sinn für mich. America Singer, Heldin der unteren Kasten.
Der Bürgermeister hielt eine schwungvolle Rede.
»… und Carolina feiert nun die bezaubernde Tochter von Magda und Shalom Singer, die Erwählte, Lady America Singer!«
Alle klatschten und jubelten. Einige Leute warfen Blumen.
Ich lächelte und winkte. Dann ließ ich wieder den Blick über die Menge schweifen, aber diesmal aus einem ganz bestimmten Grund.
Ich hätte sein Gesicht so gern noch einmal gesehen, aber ich wusste natürlich nicht, ob Aspen überhaupt gekommen war. Gestern hatte er mir noch gesagt, dass ich bezaubernd aussah, war aber distanzierter gewesen als bei unserem letzten Treffen im Baumhaus. Es war aus. Ich wusste das wohl. Aber wenn man jemanden zwei Jahre lang geliebt hat, kann man nicht schlagartig damit aufhören.
Es dauerte eine Weile, bis ich ihn entdeckte. Und dann wünschte ich mir, ich hätte nicht nach ihm Ausschau gehalten. Aspen stand neben Brenna Butler. Und hielt ihre Hand.
Manche Leute konnten also doch schlagartig aufhören, jemanden zu lieben.
Brenna war eine Sechs, ungefähr in meinem Alter. Sie war wohl recht hübsch, glich mir aber nicht im mindesten. Nun würde sie wohl die Hochzeit und das Leben bekommen, das Aspen vorher mir zugedacht hatte. Und die Einberufung schien auch kein Thema mehr zu sein. Brenna lächelte ihn an und ging zu ihren Eltern zurück.
War er vielleicht schon länger mit ihr zusammen? War sie das Mädchen, das er täglich sah, und ich nur diejenige, die er einmal pro Woche besuchte, um sich füttern und liebkosen zu lassen? Mir kam plötzlich der Gedanke, dass er nicht nur langweilige Büroarbeit machte, wenn er nicht mit mir zusammen war.
Ich war so wütend, dass ich nicht einmal weinen wollte.
Außerdem musste ich Haltung bewahren. Ich konzentrierte mich wieder auf die Menschen, die bewundernd zu mir aufblickten. Setzte mein strahlendstes Lächeln auf und winkte der Menge zu. Ich würde Aspen nicht mehr die Genugtuung geben, ihm zu zeigen, dass er mir das Herz brach. Seinetwegen stand ich hier, und nun musste ich das Beste daraus machen.
»Verehrte Damen und Herrn, bitte verabschieden Sie mit mir America Singer, unsere liebste Tochter von Illeá!«, rief der Bürgermeister. Eine kleine Band hinter mir spielte die Nationalhymne.
Wieder Applaus. Noch mehr Blumen landeten auf der Bühne. Plötzlich raunte der Bürgermeister mir ins Ohr: »Möchten Sie etwas sagen, Liebes?«
Ich wusste nicht recht, wie ich ablehnen sollte, ohne unhöflich zu sein. »Danke, aber ich bin so überwältigt, ich kann jetzt nicht sprechen.«
Er nahm meine Hände in seine. »Natürlich, meine Liebe. Keine Sorgen, ich übernehme das alles. Im Palast werden Sie diese Fähigkeiten erlernen. Sie werden sie brauchen.«
Dann schilderte er der Öffentlichkeit meine
Weitere Kostenlose Bücher