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Titel: Selection Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kiera Cass
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es kommt dennoch vor. Lucys Familie musste Geld beschaffen, weil ihre Mutter eine Operation brauchte. Sie arbeiteten bei einer Dreier-Familie. Aber Lucys Mutter wurde nicht wieder gesund, die Familie blieb verschuldet, und Lucy und ihr Vater lebten bei dieser Familie in primitivsten Verhältnissen.
    Der Sohn fand Gefallen an Lucy. Ich weiß, dass die Kasten manchmal keine Rolle spielen bei Gefühlen, aber zwischen Sechs und Drei ist wirklich ein gewaltiger Unterschied. Als die Mutter Wind bekam von seinen Gefühlen, verkaufte sie Lucy und ihren Vater an den Palast. Ich erinnere mich noch, dass Lucy tagelang geweint hat, als sie herkam. Sie muss den jungen Mann wahnsinnig geliebt haben.«
    Ich schaute zum Bett hinüber. Ich hatte wenigstens die Freiheit gehabt, eine Entscheidung zu treffen. Aber Lucy war dem Mann, den sie liebte, einfach entrissen worden.
    »Lucys Vater arbeitet in den Ställen«, fuhr Anne fort. »Er ist weder besonders schnell noch besonders stark, aber sehr fleißig. Und Lucy ist Zofe geworden. Das kommt Ihnen sicher komisch vor, aber als Zofe im Palast zu arbeiten, ist eine Ehre. Wir stehen sozusagen in der ersten Reihe. Uns erachtet man als geschickt und stark und hübsch genug, um von allen Gästen gesehen zu werden. Wir nehmen unsere Stellung sehr ernst, und das mit gutem Grund. Wenn man es vermasselt, wird man in die Küche gesteckt, wo man den ganzen Tag schuften muss. Oder man muss Holz hacken und Laub aufkehren. Zofe zu sein hingegen ist eine verantwortungsvolle Aufgabe.«
    Ich kam mir dumm vor. In meinen Augen waren alle Bediensteten Sechser. Dass es innerhalb der Kaste Abstufungen gab, hatte ich nicht gewusst.
    »Vor zwei Jahren gab es mitten in der Nacht einen Angriff auf den Palast. Die Rebellen hatten sich die Uniformen der Wachen angeeignet, und es herrschte große Konfusion. Es war so ein Durcheinander, dass niemand mehr wusste, wen man angreifen oder verteidigen sollte … es war grauenhaft.«
    Mich schauderte beim bloßen Gedanken daran. Dunkelheit, Chaos, die endlosen verwirrenden Gänge des Palastes. Verglichen mit dem Angriff von heute Morgen schienen damals wohl die Südrebellen am Werk gewesen zu sein.
    »Einer der Rebellen packte Lucy.« Anne senkte den Blick. Dann sagte sie leise: »Ich glaube, es gibt kaum Frauen bei diesen Rebellen, wenn Sie wissen, was ich meine.«
    »Oh.«
    »Ich habe es selbst nicht gesehen, aber Lucy hat mir erzählt, dass der Mann schmutzverkrustet war. Und dass er ihr Gesicht ableckte.«
    Anne zog unwillkürlich die Schultern ein. Mein Magen hob sich und drohte, das Frühstück wieder von sich zu geben. Die Vorstellung war absolut widerwärtig, und ich konnte gut verstehen, dass Lucy, die ohnehin schon angegriffen war, schlimme seelische Schäden davongetragen hatte.
    »Der Rebell zerrte sie mit sich, und sie schrie so laut sie konnte. In dem ganzen Lärm war es schwer, sie zu hören. Aber einer von unseren Wachmännern kam in letzter Sekunde um die Ecke und schoss dem Mann in den Kopf. Er riss Lucy mit sich und bedeckte sie mit seinem Körper. Sie war über und über blutbespritzt.«
    Ich schlug die Hände vor den Mund. Kaum vorstellbar, dass die zarte kleine Lucy so etwas durchgemacht hatte. Es war kein Wunder, dass sie in diesem Zustand war.
    »Man behandelte ein paar kleinere Wunden, die sie davongetragen hatte, aber um ihre Seele hat sich nie jemand gekümmert. Sie ist immer ein bisschen nervös, was sie zu verbergen versucht. Und nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch ihrem Vater zuliebe. Er ist so stolz, dass seine Tochter Zofe werden konnte. Sie möchte ihn nicht enttäuschen. Wir tun, was wir können, aber sie glaubt bei jedem Angriff, dass er noch schlimmer wird als damals. Dass jemand sie entführen, ihr etwas antun, sie umbringen wird.
    Sie gibt sich wirklich Mühe, Miss, aber ich weiß nicht, wie oft sie so etwas noch durchstehen kann.«
    Ich nickte und schaute wieder zu Lucy hinüber. Mittlerweile war sie eingeschlafen.
    Den Rest des Tages verbrachte ich mit Lesen. Anne und Mary machten irgendwelche Sachen sauber, die gar nicht schmutzig waren. Und wir waren alle ganz leise, während Lucy sich erholte.
    Ich gelobte mir, dass ich tun wollte, was in meinen Kräften stand, damit Lucy so etwas nie wieder durchmachen musste.

14
    Wie ich geahnt hatte, wollte keines der Mädchen nach Hause zurückkehren, nachdem der Angriff der Rebellen vorüber war. Wir wussten nicht, wer sich das zuerst gewünscht hatte, aber einige von uns – vor

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