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Ihre Gefühle sind absolut greifbar.«
»Ja.« Ich verdrehte die Augen. »Ich weiß.«
»Aber Sie sind bereit dazu, hierzubleiben und todtraurig zu sein und Ihr Heimweh auszuhalten, anstatt zurückzufahren. Warum?«
Ich spürte einen Kloß im Hals und schluckte ihn hinunter.
»Ich bin nicht todtraurig. Und Sie wissen auch, weshalb.«
»Nun gut, manchmal scheint es Ihnen ein wenig besser zu gehen«, räumte er ein. »Ich sehe Sie lächeln, wenn Sie mit einigen der Mädchen sprechen, und bei den Mahlzeiten wirken Sie sehr zufrieden. Dennoch sehen Sie oft sehr traurig aus. Würden Sie mir erzählen, warum? Die ganze Geschichte?«
»Es ist einfach nur eine von vielen gescheiterten Liebesgeschichten«, erwiderte ich. »Nichts Besonderes, glauben Sie mir.« Bitte nicht drängen, ich möchte nicht weinen.
»Ob sie mir nun gefällt oder nicht – ich möchte zu gern eine andere Liebesgeschichte außer der meiner Eltern hören. Eine, die außerhalb dieser Mauern und Regeln und Vorgaben stattgefunden hat?… Bitte?«
Ich hatte dieses Geheimnis so lange mit mir herumgetragen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, es nun in Worte zu fassen. Und es tat so weh, an Aspen zu denken. Konnte ich seinen Namen überhaupt aussprechen? Ich holte tief Luft. Maxon war doch jetzt mein Freund. Er bemühte sich so sehr, nett zu mir zu sein. Und er hatte sich mir ja auch offenbart?…
»In der Welt dort draußen«, begann ich und deutete über die Mauern hinweg, »sorgen die Kasten bis zu einem gewissen Grad füreinander. Es gibt zum Beispiel drei Familien, die meinem Vater pro Jahr mindestens ein Gemälde abkaufen, und ich habe Familien, die mich immer beauftragen, an Weihnachten für sie zu singen. Das sind unsere Mäzene, die uns unterstützen.
Nun, und wir selbst unterstützen eine Sechser-Familie. Wenn gerade etwas Geld für eine Putzhilfe übrig war oder wenn wir Hilfe bei irgendwelcher Büroarbeit brauchten, holten wir immer seine Mutter. Ich kannte ihn schon seit meiner Kindheit, aber er war älter als ich, eher wie mein älterer Bruder. Die beiden spielten immer ziemlich wild, deshalb hielt ich mich von ihnen fern.
Mein älterer Bruder Kota ist Künstler wie mein Vater. Vor einigen Jahren wurde eine Metallskulptur, an der er Jahre gearbeitet hatte, für sehr viel Geld verkauft. Vielleicht haben Sie damals von ihm gehört.«
»Kota Singer«, murmelte Maxon. Er überlegte, und dann sah ich, dass die Erinnerung einsetzte.
Ich warf die Haare über die Schultern und nahm meinen Mut zusammen.
»Wir haben uns riesig gefreut für Kota«, fuhr ich fort. »Er hatte wirklich schwer gearbeitet für dieses Kunstwerk. Und wir brauchten das Geld damals so bitter nötig, dass alle hell begeistert waren. Aber Kota behielt fast die ganze Summe für sich. Diese eine Skulptur machte ihn mit einem Schlag berühmt; von da an bekam er täglich Anrufe und Aufträge. Er hat inzwischen eine ewig lange Warteliste und verlangt horrende Summen für seine Arbeiten. Er kann es sich erlauben. Ich glaube, er ist ziemlich süchtig nach Ruhm. Fünfer haben selten solchen Erfolg.«
Unsere Blicke begegneten sich, und ich musste wiederum daran denken, dass ich ab jetzt immer im Licht der Öffentlichkeit stehen würde, ob ich nun wollte oder nicht.
»Jedenfalls beschloss Kota, sich von der Familie zu lösen, nachdem er berühmt geworden war. Meine ältere Schwester hatte gerade geheiratet, sodass uns bereits ihr Einkommen verloren gegangen war. Und dann verdient Kota wirklich gut und verlässt uns einfach.« Ich schüttelte den Kopf und fügte hinzu: »So was macht man einfach nicht. Man verlässt seine Familie nicht. Man kann nur überleben, wenn man zusammenhält.«
Maxon schaute mich verständnisvoll an. »Er hat alles für sich behalten, weil er sich den Weg nach oben erkaufen wollte?«
Ich nickte. »Er wollte unbedingt Zweier werden. Wäre er mit einem Status als Drei oder Vier zufrieden, hätte er sich diesen Titel kaufen und uns überdies helfen können. Aber er ist wie besessen von diesem dummen Plan. Er kann sich ein gutes Leben leisten, aber er will unter allen Umständen diesen verdammten Status erreichen. Und er wird auch nicht innehalten, bevor er es geschafft hat.«
Nun schüttelte Maxon den Kopf. »Das kann ein ganzes Leben dauern.«
»Ich glaube, das ist ihm egal – solange dann auf seinem Grabstein steht, dass er ein Zweier war.«
»Ich vermute, Sie beide stehen sich nicht mehr nahe?«
Ich seufzte. »Nein, inzwischen nicht mehr. Aber
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