Selection
zu Anfang dachte ich, dass ich einfach nur etwas falsch verstanden hätte. Ich dachte, Kota wäre ausgezogen, um unabhängig zu sein, nicht um uns zu verlassen. Damals war ich sogar noch auf seiner Seite. Als er sich sein Atelier und seine Wohnung einrichtete, habe ich ihm geholfen. Als Verstärkung rief Kota außerdem diese Sechser-Familie an, die auch für uns arbeitete. Der älteste Sohn hatte Zeit und kam ein paar Tage zum Helfen.«
Ich hielt inne, sah die Szene vor meinem inneren Auge.
»Ich packte gerade die Kisten aus … als er auftauchte. Unsere Blicke begegneten sich, und er wirkte gar nicht mehr so viel älter oder wilder auf mich. Wir hatten uns lange nicht gesehen – und wir waren jetzt keine Kinder mehr.
Den ganzen Tag lang berührten wir uns versehentlich beim Arbeiten. Er schaute mich an und lächelte, und ich fühlte mich, als sei ich zum ersten Mal richtig lebendig. Ich … ich war auf Anhieb verrückt nach ihm.«
Jetzt brach meine Stimme, und ein paar von den Tränen, die sich in mir angestaut hatten, fanden ihren Weg nach draußen.
»Wir wohnten nicht weit entfernt voneinander, und ich ging tagsüber oft spazieren, weil ich hoffte, ihn vielleicht zu treffen. Wenn seine Mutter zum Arbeiten zu uns kam, begleitete er sie manchmal. Dann schauten wir uns an – mehr war nicht möglich.« Ein kleines Schluchzen entwich meiner Kehle. »Er ist eine Sechs, ich eine Fünf, und es gibt Gesetze … und meine Mutter! Sie wäre so böse gewesen. Niemand durfte es erfahren, dass wir uns ineinander verliebt hatten.«
Meine Hände zuckten, als sich die Anspannung der langen Heimlichtuerei zu lösen begann.
»Dann fand ich kleine anonyme Zettel, die an mein Fenster geklebt waren. Darauf stand, dass ich wunderschön sei oder dass ich singen könne wie ein Engel. Ich wusste, dass sie von ihm stammten.
Am Abend meines fünfzehnten Geburtstags gab meine Mutter ein Fest für mich. Dazu lud sie auch seine Familie ein. Er nahm mich beiseite, gab mir eine Glückwunschkarte und sagte, ich solle sie erst lesen, wenn ich alleine sei. Als ich sie schließlich anschaute, standen weder sein Name noch Glückwünsche darin. Sondern nur ›Baumhaus. Mitternacht.‹«
Maxons Augen weiteten sich. »Mitternacht? Aber –«
»Ich habe regelmäßig gegen die Sperrstunde verstoßen.«
»Sie hätten im Gefängnis landen können, America«, sagte Maxon entsetzt.
Ich zuckte die Achseln. »Das war mir damals einerlei. Ich hatte das Gefühl, ich könne fliegen. Ich kannte seine Handschrift ja von all diesen Zetteln und war froh, dass es ihm gelungen war, alles geheim zu halten. Und nun hatte er sogar eine Möglichkeit für uns gefunden, miteinander alleine zu sein. Ich konnte gar nicht fassen, dass er wirklich mit mir alleine sein wollte.
An diesem Abend beobachtete ich das Baumhaus in unserem Garten von meinem Zimmer aus. Kurz vor Mitternacht sah ich jemanden die Leiter hinaufsteigen. Ich weiß noch, dass ich mir wahrhaftig noch mal die Zähne putzen ging, für alle Fälle. Dann schlich ich zur Hintertür raus und kletterte die Leiter hoch. Und da war er. Es war … kaum zu glauben.
Ich weiß nicht mehr, was wir als Erstes machten, aber es dauerte nicht lange, bis wir uns unsere Gefühle offenbarten. Und wir konnten gar nicht mehr aufhören zu lachen, weil wir so froh waren, dass wir beide gleich empfanden. In dieser Situation war es mir wirklich egal, ob ich gegen die Sperrstunde verstieß oder meine Eltern anlog. Und es war mir auch einerlei, dass ich eine Fünf war und er eine Sechs. Ich machte mir keine Sorgen um die Zukunft. Denn nichts konnte so wichtig sein wie die Tatsache, dass er mich liebte?… Und das tat er, Maxon, das tat er?…«
Wieder kamen mir die Tränen, und ich griff mir ans Herz, weil ich Aspen so sehr vermisste. Über ihn zu sprechen riss die alten Wunden wieder auf. Ich musste die Geschichte so schnell wie möglich zu Ende bringen.
»Zwei Jahre lang trafen wir uns heimlich. Aber so glücklich wir auch waren – er machte sich immer Sorgen wegen der Heimlichkeiten und weil er meinte, er könne mir nicht geben, was ich verdient hätte. Als wir die Mitteilung über das Casting bekamen, bestand er darauf, dass ich mich anmeldete.«
Maxon blieb der Mund offen stehen.
»Ich weiß. Es war so dumm. Aber es hätte ihn niemals losgelassen, wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte. Und wirklich, ganz ehrlich, ich hätte niemals geglaubt, dass ich zu den Erwählten gehören würde. Wieso auch?«
Ich hob
Weitere Kostenlose Bücher