Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Lächeln.
»Herein«, hörte sie, als sie noch gar nicht angeklopft hatte.
Vielleicht war der Mann mit dem ersten Hund ja doch ein Anwalt gewesen. Diese Frau trug zwar keine Turnschuhe, wohl aber Chinasandalen und Jeans und eine Bluse, die Kristine schon in einem Kaufhaus gesehen hatte. Das Büro erzählte auch sonst nicht gerade von Luxus. Außerdem lag in einer Ecke ein dritter Hund. Vielleicht war das eine Voraussetzung, um hier Arbeit zu finden. Daß man einen Hund hatte. Es war eine Promenadenmischung, dünn und rabenschwarz und häßlich, aber mit großen schönen Augen.
Ein geschwungener Schreibtisch nahm fast das ganze Zimmer ein. Die Bücherregale waren schlicht und nicht besonders gut gefüllt, und auf dem Boden stand, an die Regalwand gelehnt, eine lächerliche riesige Stoffkatze. Sie war nicht schön und auch nicht übermäßig witzig, aber zusammen mit einem Spielzeugstreifenwagen, billigen Plakaten hinter rahmenlosem Glas an den Wänden und einem blühenden Fleißigen Lieschen in einem weißen Übertopf half sie doch, das Zimmer weniger furchteinflößend erscheinen zu lassen.
Die Anwältin erhob sich und streckte Kristine die Hand entgegen. Linda Løvstad war dürr wie eine Bohnenstange, platt wie ein Bügelbrett und hatte strähnige hellblonde Haare, die sie im vergeblichen Versuch, sie voller aussehen zu lassen, zu einer Art Dutt hochgesteckt hatte. Aber ihr Gesicht war freundlich, ihr Lächeln schön und ihr Händedruck fest. Sie bot Kaffee an, holte einen hellbraunen, leeren Ordner hervor und fing an, Personalien aufzunehmen.
Kristine Håverstad wußte einfach nicht, was sie hier zu suchen hatte. Unter keinen Umständen würde sie ihre Erklärungen ein weiteres Mal abgeben.
Die Frau war Gedankenleserin.
»Du brauchst mir nichts über die Vergewaltigung zu erzählen«, beruhigte sie. »Ich bekomme alle Unterlagen von der Polizei.«
Es folgte eine Pause, die überhaupt nicht peinlich war. Nur beruhigend. Die Anwältin sah Kristine lächelnd an, blätterte in einigen Papieren, die nichts mit ihr zu tun haben konnten, und wartete vielleicht darauf, daß sie etwas sagte. Kristine musterte die Stoffkatze und fuhr mit den Fingern über ihre Sessellehne. Als die Anwältin noch immer nichts sagte, zuckte Kristine leicht mit den Schultern und starrte den Boden an.
»Hast du Hilfe? Eine Psychologin oder so was?«
»Ja. Genauer gesagt, eine Sozialberaterin. Ist ja auch egal.«
»Und bringt das irgendwas?«
»Kommt mir im Moment nicht so vor. Aber ich weiß, daß es wichtig ist. Auf längere Sicht, meine ich. Und ich war auch erst einmal bei ihr. Gestern.«
Anwältin Løvstad nickte aufmunternd.
»Meine Aufgabe ist eigentlich ziemlich begrenzt. Ich soll eine Art Bindeglied zwischen dir und der Polizei sein. Wenn du Fragen hast, dann ruf mich einfach an. Die Polizei soll mich auf dem laufenden halten. In der Regel verschlampen sie das, aber du hast Glück mit deiner Hauptermittlerin. Die sagt Bescheid.«
Jetzt lächelten beide.
»Ja, die scheint in Ordnung zu sein«, bestätigte die Mandantin.
»Und ich werde dir beim Schmerzensgeld behilflich sein.«
Die junge Frau sah verwirrt aus.
»Schmerzensgeld?«
»Ja, du hast Anspruch auf Schmerzensgeld. Entweder vom Täter oder vom Staat. Das ist genau festgelegt.«
»Ich will kein Schmerzensgeld!«
Kristine Håverstad war von ihrer heftigen Reaktion überrascht. Schmerzensgeld? Als ob ihr jemals irgendwer einen Betrag geben könnte, der ausreichte, alle Schmerzen zu heilen, die entsetzliche schwarze Nacht auszuwischen, die ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte. Geld?
»Ich will nichts!«
Wenn ihre Tränendrüsen nicht restlos erschöpft gewesen wären, dann wäre sie jetzt in Tränen ausgebrochen. Sie wollte kein Geld. Hätte sie die Wahl gehabt, dann hätte sie sich für ein Videogerät entschieden, auf dem sie ihr Leben praktischerweise als Band ablaufen lassen könnte. Sie würde die Tage zurückspulen und am fraglichen Samstag zu ihrem Vater gehen, statt sich in ihrer eigenen Wohnung ihr Leben zerstören zu lassen. Aber diese Wahl hatte sie nicht.
Ihre Unterlippe und bald auch die gesamte Kinnpartie bebten heftig.
»Ich will mein Leben zurückhaben! Und kein Schmerzensgeld!«
Das letzte Wort spuckte sie aus wie einen verdorbenen Bissen.
»Ganz ruhig!«
Die Anwältin beugte sich über den breiten Tisch und fing ihren Blick ein.
»Über das alles können wir später noch reden. Vielleicht bist du dann immer noch dieser Ansicht,
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