Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Fingern an jeder Hand, als sie »norwegischen« sagte. »Die Vergewaltigungen, die beim letzten Glas in der Wohnung passieren, bei Firmenfeiern, durch Ehemänner … you name it! Da hast du die Dunkelziffer. Jede Frau weiß, daß eine Anzeige überhaupt nichts bringt. Die ›waschechten‹ Vergewaltigungen dagegen …« Wieder winkten die Finger. »Die gemeinen Überfälle, die gemeinen, dunkelhäutigen Verbrecher, die nicht von hier sind, von denen alle Welt weiß, daß die Polizei es auf sie abgesehen hat … die werden angezeigt.«
Pause. Håkon fühlte sich getroffen und lächelte verlegen und abwehrend.
»So war das doch nicht gemeint.«
»Nein, davon gehe ich aus. Aber du darfst so was nicht sagen. Nicht mal aus Jux. Und eines glaube ich ganz sicher.«
Schweißnaß und resigniert richtete sie sich auf, beugte sich zum Fenster hinüber und versuchte, es weiter aufzureißen. Die neuen Vorhänge bewegten sich kaum, und auch das eher durch Hannes Bewegung als durch einen Luftzug von draußen.
»Himmel, das ist vielleicht heiß.«
Das alles brachte nichts. Das Fenster schloß sich bis auf einen zehn Zentimeter breiten Spalt, und der bewirkte gar nichts. Im Zimmer herrschten sicher dreißig Grad.
»Eines glaube ich ganz sicher«, wiederholte sie. »Wenn alle Vergewaltigungen, die hierzulande stattfinden, wirklich angezeigt würden, dann wären wir entsetzt über zwei Dinge.« Håkon Sand wußte nicht sicher, warum sie sich hier unterbrach. Vielleicht wollte sie ihm die Möglichkeit bieten, diese beiden Dinge zu erraten. Statt das Risiko einer zweiten Blamage einzugehen, wartete er schweigend ihr Fazit ab.
»Erstens: wie viele Vergewaltigungen passieren. Zweitens: daß Ausländer genauso viele davon begehen, wie ihr Anteil an der Bevölkerung es erwarten läßt. Nicht mehr und nicht weniger.« Wieder stöhnte sie über die Hitze. »Wenn das nicht bald ein Ende hat, raste ich aus. Ich glaube, ich fahre eine Runde. Kommst du mit?«
Mit entsetztem Blick lehnte er das Angebot ab. Eine andere Motorradfahrt steckte ihm noch in den Knochen; eine eiskalte, lebensgefährliche Tour vor einem halben Jahr, als Hanne Wilhelmsen gefahren war und er selbst einen geblendeten und triefnassen Passagier gegeben hatte. Diese Tour war absolut lebensnotwendig gewesen. Seine erste Motorradfahrt und ganz bestimmt auch die letzte.
»Nein danke, ich geh’ lieber eine Runde schwimmen«, sagte er. Es war halb vier. Im Grunde konnten sie jetzt Feierabend machen.
»Strenggenommen solltest du ja erst mal die Tips durchgehen«, sagte er zaghaft.
»Das mache ich morgen, Håkon. Morgen.«
Seine Verzweiflung drohte ihn zu verzehren. Sie nagte wie eine scheußliche graue Ratte irgendwo in seinem Brustkasten herum. Seit Sonntag morgen hatte er zwei Flaschen eines Magenmittels mit Apfelsinengeschmack geleert. Aber das brachte nichts. Der Ratte schien der Geschmack zu gefallen, sie nagte mit neuer Kraft weiter. Was er auch tat, was er auch sagte, nichts half. Seine Tochter wollte nicht mit ihm sprechen. Sie wollte zwar bei ihm sein, in ihrem Elternhaus, in ihrem alten Kinderzimmer. Darin fand er einen Hauch von Trost. Daß seine Nähe ihr vermutlich doch eine Art Sicherheit gab. Aber mit ihm sprechen wollte sie nicht.
Er hatte Kristine vom psychiatrischen Notdienst abgeholt. Als er sie dort sitzen sah, elend, mit düsteren Augen und eingesunkenen Schultern, mußte er an seine Frau denken, vor zwanzig Jahren. Sie hatte damals genauso dagesessen, mit demselben leeren Blick, derselben hoffnungslosen Haltung, demselben ausdruckslosen Mund. Sie hatte gerade erfahren, daß der Tod sie von ihrem Mann und der knapp vier Jahre alten Tochter wegreißen würde. Damals war er wütend gewesen. Er hatte geflucht und Krach geschlagen und seine Frau zu jedem einzelnen Fachmann im ganzen Land gebracht. Schließlich hatte er sich von seinen Eltern einen bedeutenden Betrag geliehen, in der vergeblichen Hoffnung, daß ferne Fachleute in den USA , diesem gelobten Land der Mediziner, die grausame Tatsache ändern könnten, über die vierzehn norwegische Ärzte ein und dieselbe traurige Meinung gehabt hatten. Das einzige Resultat dieser Expedition war gewesen, daß die junge Frau weit von zu Hause gestorben war und daß er die Heimreise mit seiner Geliebten in einer Kühltruhe im Laderaum angetreten hatte.
Sein Leben allein mit der kleinen Kristine war schwierig gewesen. Er hatte gerade sein Examen als Zahnarzt gemacht, zu einem Zeitpunkt, als dieser früher so
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