Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
kochte sich ein bißchen Suppe.
Die anderen Nachbarn hatten ebenfalls nichts gehört. Oder gesehen. Die meisten hatten registriert, daß am Sonntag morgen die Polizei gekommen war. Gerüchte waren durch das Mietshaus geeilt, und alle anderen wußten schon mehr als der liebenswürdige Greis aus dem ersten Stock. Aber nichts davon war von Interesse für die Polizei, es waren nur Geschichten, die sie einander eifrig übers Treppengeländer hinweg erzählt hatten, kopfschüttelnd und ungläubig; Spekulationen und gegenseitige Beteuerungen, daß sie von nun an alle viel besser aufpassen würden.
Kristine Håverstad war nicht zu Hause. Das wußte Hanne Wilhelmsen. Sicherheitshalber klingelte sie aber trotzdem und wartete einige Sekunden, ehe sie die Tür aufschloß. Die junge Frau hatte ihr die Schlüssel gegeben und gesagt, sie wolle fürs erste bei ihrem Vater bleiben. Wie lange, wisse sie noch nicht.
Die Wohnung war aufgeräumt, gut in Schuß und gemütlich. Sie war nicht groß, Hanne und ihr Kollege sahen schnell, daß sie aus einem Wohnzimmer mit Kochnische und einem recht großen Schlafzimmer mit einem Schreibtisch in einer Ecke bestand. Ein schmaler Flur führte in die Zimmer. Das Bad war so klein, daß es fast möglich schien, auf dem Klo zu sitzen, zu duschen und sich gleichzeitig die Zähne zu putzen. Es war sauber und duftete leicht nach Desinfektionsmittel mit Kiefernnadelgeruch.
Die Spurensicherung war schon hier gewesen, und Hanne Wilhelmsen wußte, daß sie nichts von Bedeutung finden würde. Sie war einfach neugierig. Die Bettwäsche war nicht mehr da, die Decke lag ordentlich auf dem Bett. Es war ein Einzelbett, aber es war breit genug, um zwei guten Freunden Platz zu bieten. Es war aus Kiefernholz; kleine gedrechselte Kugeln krönten die Pfosten. Unterhalb der Kugeln am Fußende sah sie eine dunkle, ungleichmäßige Kante. Sie hockte sich hin und ließ ihre Finger über diese Stelle gleiten. Winzige Holzsplitter stachen sie. Sie seufzte tief, verließ das Schlafzimmer und blieb in der Wohnzimmertür stehen.
»Was suchen wir hier eigentlich?« fragte Erik unsicher.
»Nichts«, antwortete Hanne Wilhelmsen und starrte vor sich hin, um ihrer Antwort zusätzlichen Ausdruck zu verleihen. »Wir suchen nichts. Ich wollte diese Wohnung, in die Kristine Håverstad sicher niemals zurückziehen können wird, nur sehen.«
»Das ist einfach übel«, murmelte der Junge.
»Das ist noch viel mehr«, sagte Hanne. »Das ist viel, viel mehr als das.«
Sie schlossen beide Sicherheitsschlösser ab und machten auf dem Rückweg einen unnötig großen Umweg. Erik der Rote war hingerissen. Nach diesem Ausflug wußte er nicht, in wen er heftiger verliebt war, in Hanne Wilhelmsen oder in ihre riesige rosa Harley.
DIENSTAG, 1. JUNI
Kristine Håverstad versuchte sich zu grausen, aber das schaffte sie nicht. Es war doch auch egal. Sie brauchte keine Anwältin. Sie brauchte eigentlich gar nichts. Sie wollte nur zu Hause sein, zu Hause bei ihrem Vater. Sie wollte alle Türen abschließen und fernsehen. Jedenfalls wollte sie keine Anwältin. Aber die Polizistin hatte darauf bestanden. Sie hatte ihr eine Namensliste gezeigt und vorsichtig angedeutet, daß Linda Løvstad eine gute Wahl sein könnte. Als Kristine Håverstad genickt und mit den Schultern gezuckt hatte, hatte Hanne Wilhelmsen für sie angerufen. Bereits am nächsten Tag wurde Kristine Håverstad um 10.30 in der Kanzlei von Anwältin Løvstad erwartet.
Jetzt stand sie vor dem Haus und versuchte sich zu grausen. Das Namensschild wies Narben auf, die beim Austauschen von Anwaltsnamen entstanden waren, aber es war doch deutlich zu lesen, »Anwältlnnen Andreassen, Bugge, Hoel und Løvstad, 1. Stock«. Schwarze Buchstaben auf abgeschabtem Messing. Ein Hund kam ihr schwanzwedelnd entgegen, als sie die Glastür im ersten Stock öffnete. Sie fuhr zusammen, wurde aber von einem Mann beruhigt, der unmöglich Anwalt sein konnte, so, wie er angezogen war. Abgewetzte Jeans und Turnschuhe. Er lächelte, nahm den Hund am Halsband und zog ihn leise schimpfend in ein Büro. Am Ende eines sehr langen Flurs lag noch ein Hund, groß und koksgrau, den Kopf auf den Pfoten und mit einem traurigen Ausdruck, als könne er nur zu gut nachvollziehen, was sie durchgemacht hatte. Eine dünne, gutangezogene junge Frau an der mit einer Telefonanlage gekoppelten Rezeption zeigte auf den traurigen grauen Hund.
»Die vorletzte Tür links«, sagte sie mit leiser Stimme und einem
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