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Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Titel: Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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legte zwei große schwarze Tücher über die Käfige. Sofort war alles still.
    »So. Jetzt können wir uns unterhalten. Sie brauchen nicht so laut zu reden. Ich höre noch gut.«
    Sie saßen einander wieder gegenüber.
    »Ein Verbrechen«, murmelte er leise. »Ein Verbrechen. Davon gibt es heute so viele. In den Zeitungen. Jeden Tag. Ich gehe fast nie aus dem Haus.«
    »Das ist sicher das beste«, bestätigte die Polizistin. »Das sicherste.«
    In der Wohnung war es warm. Eine Uhr tickte schwer und müde auf einem Tisch, und Hanne Wilhelmsen wartete ab, als sie entdeckte, daß der Zeiger auf die Vier zuging. Zögernd und mit großer Kraftanstrengung schlug die Uhr viermal.
    »Deshalb möchten wir mit den Nachbarn sprechen. Ob die etwas gehört oder gesehen haben.«
    Der Mann gab keine Antwort, er schüttelte nur ruhig den Kopf.
    »Mit dieser Uhr stimmt etwas nicht. Früher war sie nicht so. Sie klingt jetzt anders. Finden Sie nicht auch?«
    Hanne Wilhelmsen seufzte.
    »Schwer zu sagen. Ich höre sie heute doch zum erstenmal. Aber ich finde auch, daß sie sich ein bißchen … traurig anhört. Vielleicht sollten Sie sie mal zum Uhrmacher bringen?« Vielleicht fand er das nicht. Er schwieg und schüttelte nur weiter leise den Kopf.
    »Haben Sie in der Nacht zum Sonntag etwas gehört? Vorgestern nacht?«
    Obwohl der Alte betont hatte, daß sein Gehör völlig in Ordnung sei, hob sie automatisch die Stimme.
    »Nein, etwas gehört … ich glaube nicht. Ich habe wohl nichts gehört. Nur das, was ich jede Nacht höre, natürlich. Autos. Und die Straßenbahn. Aber die fährt nachts ja nicht. Die habe ich also nicht gehört.«
    »Sind Sie oft …«
    »Ich habe einen sehr leichten Schlaf, wissen Sie«, fiel er ihr ins Wort. »Als ob ich in meinem langen Leben genug geschlafen hätte. Ich bin jetzt neunundachtzig. Meine Frau ist nur siebenundsechzig geworden. Jetzt nehmen Sie doch endlich ein Plätzchen. Meine Tochter hat sie gebacken. Nein, das stimmt nicht, das war meine Enkelin. Manchmal komme ich doch ein bißchen durcheinander. Meine Tochter ist ja tot. Da kann sie auch nicht mehr backen!«
    Er lächelte ein reizendes, bescheidenes Lächeln, so als sei ihm plötzlich aufgegangen, daß die Zeit ihn nicht nur eingeholt, sondern längst auch überholt hatte.
    Ein Schuß in den Ofen. Hanne Wilhelmsen trank ihren Kaffee, bedankte sich höflich und beendete das Gespräch.
    »Was war das denn überhaupt für ein Verbrechen?« fragte der Mann plötzlich interessiert, als Hanne und ihr Kollege im Flur bereits zu Helmen und Lederjacken griffen.
    Kommissarin Wilhelmsen drehte sich zu ihm um und zögerte kurz, ehe sie den lieben alten Mann mit den brutalen Schattenseiten der Hauptstadt konfrontierte. Dann riß sie sich zusammen. Er hat dreimal soviel vom Leben gesehen wie ich, dachte sie und antwortete: »Vergewaltigung. Es war eine Vergewaltigung.«
    Er schüttelte sich und breitete die Arme aus.
    »Sie ist doch so ein nettes junges Mädchen«, sagte er. »Wie schrecklich!«
    Die Tür schloß sich hinter ihnen, und der Alte stapfte zu seinen gefiederten Freunden zurück, um die Tücher von den Käfigen zu nehmen. Eine Kakophonie von Danksagungen wurde ihm zuteil, und er hielt einem der Aras einen Finger hin, woraufhin der Vogel freundlich an der Hand seines Besitzers herumbiß.
    »Vergewaltigung. Wie entsetzlich«, sagte der Alte zu dem Papagei, der zustimmend nickte. »Ob jemand hier aus dem Haus zu so etwas fähig ist? Nein, das war sicher ein Fremder. Vielleicht der mit dem roten Auto. Das Auto habe ich noch nie gesehen.« Er zog seinen Finger zurück und stapfte zu einem abgenutzten, bequemen Sessel am Fenster. Dort saß er immer, wenn die Schlaflosigkeit ihn aus dem warmen Bett vertrieb. Die Stadt war seine Freundin, solange er sicher im Haus saß. Er wohnte schon sein Leben lang in dieser Wohnung, hatte gesehen, wie Pferdewagen lärmenden Automobilen weichen mußten, wie Gaslaternen durch elektrisches Licht ersetzt und die Pflastersteine mit grauschwarzem Asphalt zugeschmiert worden waren. Er kannte seine Nachbarschaft, jedenfalls so, wie sie aus einem Fenster im ersten Stock erschien. Er kannte die Autos aus der Gegend und wußte, wem sie gehörten. Das rote Auto hatte er noch nie gesehen. Und den hochgewachsenen jungen Mann, der gegen Morgen damit weggefahren war, auch nicht. Der war sicher der Täter.
    Er blieb noch ein Weilchen am Fenster sitzen und nickte vielleicht auch ein. Dann ging er in aller Ruhe in die Küche und

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