Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
lassen. Aber sie konnte ja nicht ewig so weitermachen. Nach einer Weile ließ sie los. Die Schmerzen in der Brust stellten sich wieder ein. Dort drinnen war alles hohl, ein schwarzer leerer Raum, darin ein undefinierbarer Schmerz. Der Schmerz wirbelte umher, schneller und schneller, und schließlich stand sie auf und holte die kleine Pillenschachtel, die sie beim Notdienst bekommen hatte. Valium, 0,5 mg. Eine winzige Schachtel. Jede Pille stellte die Hoffnung auf ein wenig Ruhe dar. Für einen Moment. Die Schachtel in der linken Hand, blieb sie eine Ewigkeit stehen. Dann ging sie damit ins Badezimmer, klappte den Klodeckel hoch und kippte den Inhalt ins bläuliche Chlorwasser. Die Pillen schwammen noch eine Weile an der Oberfläche, dann sanken sie langsam auf den Porzellanboden und verschwanden im Abfluß. Sicherheitshalber zog sie ab. Zweimal. Danach wusch sie sich gründlich mit kaltem Wasser das Gesicht und ging ins Wohnzimmer. Jetzt war es dunkel. Nur eine kleine Lampe über dem Fernseher brannte und warf einen schwachen gelben Lichtschein über die weichen Teppiche vor der Sitzecke. Sie holte sich noch eine Flasche Rotwein aus der Küche, ganz leise, um ihren Vater nicht zu wecken. Falls der schlief. Danach saß sie im besten Sessel, dem alten Lehnstuhl ihres Vaters, bis auch diese Flasche leer war.
Und dann stand er in der Tür. Riesig groß, aber mit hängenden Schultern, im Schlafanzug. Er streckte in hilfloser Geste die Hände aus. Beide schwiegen. Er zögerte lange, dann kam er doch herein und hockte sich vor sie hin.
»Kristine«, sagte er leise, mehr um überhaupt etwas zu sagen. »Kristine. Meine Kleine.«
Sie hätte so gern geantwortet. Lieber als alles auf der Welt wäre sie ihm entgegengekommen, hätte sich vorgebeugt, sich trösten lassen und ihn getröstet. Ihm erzählt, wie traurig es sie machte, ihm das angetan zu haben, traurig, weil sie ihn enttäuscht und sein Leben ruiniert hatte, als sie dumm genug gewesen war, sich vergewaltigen zu lassen. Sie hätte so schrecklich gern die vergangenen entsetzlichen Tage ausgewischt, alles ausgewischt, um vielleicht acht Jahre alt und wieder glücklich zu sein, um sich in die Luft werfen und von seinen Armen auffangen zu lassen. Aber sie schaffte das ganz einfach nicht. Nichts konnte alles wiedergutmachen. Sie hatte sein Leben ruiniert. Sie konnte nur die Hand aus strecken und mit den Fingerspitzen sein Gesicht streicheln, von der weichen Haut an den Schläfen über die rauhe, unrasierte Wange bis zum Grübchen im Kinn.
»Papa«, sagte sie leise und stand auf. Sie schwankte leicht, fand ihr Gleichgewicht wieder und ging zurück in ihr Zimmer. Bei der Tür drehte sie sich kurz um und sah, daß er immer noch dort hockte, die Hände vors Gesicht geschlagen. Sie schloß die Tür hinter sich und legte sich angezogen aufs Bett. Einige Minuten später schlief sie tief und traumlos.
MITTWOCH, 2. JUNI
Auf dem gepflasterten Hang, der sich vom Grønlandsleiret zum Polizeigebäude erstreckte, war einiges los. Leute kamen und gingen. Ab und zu flitzte ein Taxi heran und spuckte Männer in Anzügen aus, die allesamt wichtige Menschen in den oberen Etagen sprechen mußten, alte Damen, die auf dünnen Beinen und in vernünftigen Laufschuhen ins Haus staksten, um aufgeregt und empört einen verschwundenen Pudel zu melden, und alle möglichen anderen Leute. Die Sonne schien und schien, und der Löwenzahn auf dem Rasen bekam schon graue Haare. Sogar das Gefängnis hinten in der Pappelallee sah gemütlich aus. Jederzeit hätten die Panzerknacker pfeifend durch das Tor kommen können, bereit zu neuen Taten. Halbnackte Menschen lagen und saßen überall auf den Grünflächen zwischen den Gebäuden, einige machten Mittagspause, die anderen waren Arbeitslose und Hausfrauen, die diesen einzigen grünen Flecken im alten Oslo genossen. Ein paar dunkelhäutige Kinder spielten zwischen den Sonnenbadenden Fußball, was einige, die immer wieder aus ihrem schläfrigen Zustand hochfuhren, wenn der Ball auf ihrem eingeölten Bauch landete, doch sehr verärgerte. Die Kinder lachten und schienen ihr Spiel durchaus nicht an einen anderen Ort verlegen zu wollen.
Hanne Wilhelmsen und Håkon Sand saßen auf einer Bank hinten an der Mauer. Hanne hatte sich die Hosenbeine bis über die Knie aufgekrempelt und die Schuhe ausgezogen. Ein verstohlener Blick verriet Håkon, daß sie sich die Beine nicht rasierte. Was gut war, denn sie hatte nur weichen, hellen, femininen Flaum vorzuweisen, der
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