Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
verschränkte die Arme vor der Brust und starrte über seinen Kopf hinweg ins Leere.
»Ich glaube, wir unterschätzen unser Rachebedürfnis. Hören Sie sich doch bloß die Juristen an! Wenn jemand auch nur eine Andeutung wagt, daß Rache beim Strafmaß eine Rolle spielen könnte, dann kommen sofort die rechtsgeschichtlichen Vorträge darüber, daß das Thema schon seit Jahrhunderten erledigt ist. Rache gilt bei uns einfach nicht als edel. Sie ist gemein, sie ist verwerflich, und vielleicht vor allem …« Sie biß sich auf die Lippe, während sie nach einem Wort suchte. »… primitiv! Sie erscheint uns primitiv. Das ist ein gediegener Trugschluß, wenn Sie mich fragen. Das Bedürfnis nach Rache ist tief in uns verwurzelt. Die Frustration der Leute, wenn ein Sittlichkeitsverbrecher zu anderthalb Jahren verurteilt wird, läßt sich natürlich nicht durch juristische Phrasen über Verbrechensverhütung und Resozialisierung dämpfen. Die Leute wollen Rache! Jemand, der sich übel aufgeführt hat, soll auch übel behandelt werden. Basta.«
Finn Håverstad ahnte, worauf diese seltsame Polizeibeamtin hinauswollte. Noch immer quälte ihn die Unsicherheit, aber etwas an ihrem Engagement, ihren Augen, ihrer Gestik, die ihre Aussagen zu unterstreichen schien, sagte ihm, daß diese Frau ihm nicht übelwollte. Es war ihre Art, ihn vor dem zu warnen, womit er gerade erst angefangen hatte. Eine Warnung, ganz klar, aber eine wohlmeinende und mitfühlende Warnung.
»Aber wissen Sie, Håverstad, so läuft das bei uns nun mal nicht. Die Leute klären nicht auf eigene Faust Verbrechen auf, um sich dann bei Nacht und Nebel, zur klammheimlichen Freude des Publikums, zu rächen. Das geht nur im Film so. Und vielleicht in den USA .«
Es klopfte. Eine unbeschreibliche Gestalt riß die Tür auf, ohne auf Antwort zu warten. Der Mann war fast zwei Meter groß, hatte sich den Schädel kahlgeschoren und prunkte mit einem üppigen, ungepflegten roten Schnurrbart und einem Kreuz im Ohr.
»Ach, Entschuldigung«, rief er, als er Håverstad sah, aber er schien es durchaus nicht so zu meinen. Er blickte die Polizeibeamtin an. »Freitagsbier um vier, kommst du mit?«
»Wenn ich auch ein alkoholfreies nehmen darf, dann ja.«
»Bis um vier also«, sagte das Monstrum und knallte die Tür ins Schloß.
»Er ist Polizist«, versicherte sie wie zur Entschuldigung. »Fahnder. Die sehen manchmal ein bißchen seltsam aus.«
Die Stimmung hatte sich gewandelt. Ihr Vortrag war zu Ende. Sie reichte ihm die beiden mit der Maschine beschriebenen Blätter zum Durchlesen. Das ging schnell. Nichts von dem, worüber sie in der letzten halben Stunde gesprochen hatten – worüber sie gesprochen hatte –, stand darauf. Sie tippte mit dem Zeigefinger unten auf die zweite Seite, und er unterschrieb.
»Und hier«, sagte sie und zeigte auf den Rand der ersten Seite.
Offenbar konnte er jetzt gehen. Er stand auf, aber sie winkte ab, als er ihr zum Abschied die Hand hinstreckte.
»Ich bring ‘ Sie hinaus.«
Sie schloß ihr Büro ab und wanderte neben ihm durch einen Flur mit blauen Türen und Linoleumboden. Geschäftige Menschen liefen hin und her. Niemand trug Uniform. Vor dem Treppenhaus blieben sie stehen. Jetzt war sie bereit, ihm die Hand zu geben.
»Lassen Sie mich Ihnen einen guten Rat geben, Håverstad. Mischen Sie sich nicht in Dinge ein, mit denen Sie nicht fertig werden. Machen Sie etwas anderes. Fahren Sie mit Ihrer Tochter in Ferien. In die Berge. Nach Spanien. Egal, wohin. Aber lassen Sie uns unsere Arbeit tun. Allein.«
Er murmelte einen Abschiedsgruß und ging die Treppe hinunter. Hanne Wilhelmsen sah ihm nach, bis er sich den schweren Metalltüren näherte, die die unerträgliche Hitze aussperrten. Dann ging sie die paar Meter zum Fenster nach Westen und hatte es gerade erreicht, als er draußen auftauchte. Er ging mit schweren Schritten, wie ein alter Mann. Er blieb kurz stehen und streckte den Rücken, dann verschwand er in der Tiefgarage.
Der Polizeibeamtin Hanne Wilhelmsen tat dieser Mann schrecklich leid.
Kristine Håverstad war sonst immer gern allein zu Hause gewesen. Jetzt machte sie überhaupt nichts mehr gem. Sie war wach gewesen, als ihr Vater aufstand, war aber im Bett geblieben, bis um halb acht die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war. Danach hatte sie das ganze heiße Wasser verbraucht. Zuerst hatte sie zwanzig Minuten lang geduscht, sich rot und wund geschrubbt, und danach habe sie ein langes, kochendheißes Schaumbad
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