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Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Titel: Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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genommen. Das war zur Routine geworden, zu einem morgendlichen Ritual.
    Jetzt saß sie in einem alten Trainingsanzug und ausgelatschten Seehundspantoffeln da und sah ihre CD -Sammlung durch. Als sie vor zwei Jahren zu Hause ausgezogen war, hatte sie nur ganz neue CD s und ihre Lieblingsmusik mitgenommen. Der restliche Stapel war ziemlich groß. Sie suchte sich eine alte Platte von A-ha aus, »Hunting High and Low«. Passender Titel. Sie hatte das Gefühl, nach etwas zu suchen, von dem sie nicht wußte, wo es sein könnte. Sie ahnte ja nicht einmal, wonach sie suchte. Als sie das Cover aufklappte, fiel die CD auf den Boden. Die Schachtel fiel auseinander und ließ sich nicht wieder zusammensetzen. Wütend versuchte Kristine es immer weiter, obwohl sie wußte, daß es nicht klappen würde. Am Ende war die Schachtel wirklich kaputt. Entnervt warf sie beide Teile auf den Boden und brach in Tränen aus. Diese verdammten CD -Hersteller. Sie weinte eine halbe Stunde lang.
    Morten Harket war nicht zerbrochen. Vornübergebeugt, die muskulösen Arme starr ausgestreckt, stierte er mit schwarzweißem, unergründlichem Blick an ihr vorbei. Kristine studierte seit vier Jahren Medizin. Sie beherrschte die Anatomie. Sie fischte das kleine Coverbild aus den Plastikscherben auf dem Boden. Dieser Muskel war bei normalen Menschen nicht zu sehen. Dazu gehörte Training, sehr viel Training. Sie betastete ihre eigenen dünnen Oberarme. Der Trizeps war zwar vorhanden, ließ sich aber nicht blicken. Bei Morten Harket tat er das. Die Oberarme beulten sich kräftig und klar aus. Unverwandt starrte sie auf dieses Bild. Der Mann war durchtrainiert gewesen. Er hatte einen deutlich sichtbaren Trizeps gehabt. Wenn sie versuchte, an den schrecklichen Abend zurückzudenken, dann begriff sie einfach nicht, wann sie das gesehen hatte. Vielleicht hatte sie es nicht gesehen. Vielleicht hatte sie es nur gespürt. Aber sie war hundertprozentig sicher. Der Vergewaltiger hatte einen dicken Trizeps gehabt.
    Eine Tatsache. Aber sie wußte nicht, wie sie damit umgehen sollte.
    Als sie plötzlich vom Flur her Geräusche hörte, fuhr sie zusammen, als würde sie bei einem ihr unbekannten Verbrechen auf frischer Tat ertappt. Adrenalin schäumte ins Blut, und sie sammelte blitzschnell die Plastikteile auf und versuchte, sie in dem großen Stapel unversehrter CD s zu verstecken. Dann brach sie wieder in Tränen aus.
    Im Moment machte ihr alles angst. Früh am Morgen war ein kleiner Vogel gegen das große Wohnzimmerfenster geflogen, als sie gerade versucht hatte, etwas zu essen. Bei dem Geräusch war sie heftigst zusammengefahren. Sie hatte sofort gewußt, was los war, diese kleinen Viecher knallten öfter gegen die Fensterscheibe. Und fast immer ging es gut. Ab und zu blieben sie eine halbe Stunde liegen, dann rappelten sie sich wieder auf, schlugen versuchsweise mit den Flügeln und flogen unsicher davon. Diesmal hatte sie den Vogel aufgehoben, hatte das kleine Herz schlagen hören und war einfach verzweifelt gewesen. Schließlich war der Vögel gestorben. Sicher vor Schreck, weil sie ihn hochgehoben hatte. Sie fühlte sich schuldig und schämte sich.
    Ihr Vater beugte sich über sie. Er zog sie hoch, und sie schwankte, als sei sie einfach nicht imstande, ihren schmächtigen Körper aufrecht zu halten. Er hatte ganz vergessen, daß sie so dünn war, und sein Herz krampfte sich zusammen, als er ihre mageren Handgelenke umfaßte, um sie am Umfallen zu hindern. Vorsichtig bugsierte er sie zum Sofa. Sie ließ sich auf die weichen Kissen setzen, ohne zu widersprechen, willenlos. Er setzte sich neben sie, ohne sie zu berühren. Dann überlegte er es sich anders, rutschte näher an sie heran, hielt aber inne, als sie auszuweichen schien. Zögernd nahm er ihre Hand. Sie hinderte ihn nicht daran.
    Anderen physischen Kontakt gab es zwischen ihnen nicht. Und darüber war Kristine froh. Sie konnte sich nicht zusammennehmen. Sie wollte es gem. Sie wollte jedenfalls etwas sagen, egal was.
    »Es tut mir so leid, Papa. So schrecklich leid!«
    Er hörte sie nicht. Sie sprach ganz leise und weinte so heftig, daß sie die Hälfte der Worte gar nicht richtig aussprach. Aber immerhin sprach sie. Einen Moment lang war er unsicher, ob er irgendeine Antwort geben sollte. Würde Schweigen ihr als Zeichen der Hilflosigkeit erscheinen? Oder wäre es gerade das beste, nichts zu sagen, nur zuzuhören? Als Zwischenlösung räusperte er sich.
    Das schien das richtige zu sein. Sie ließ sich

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