Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
gleich noch einmal. Daß die Ausländerbehörden ihre Zeit mit der Suche nach verschollenen Ausländern vergeuden könnten, wo sie doch alle Hände voll zu tun hatten, die übrigen aus dem Land zu schmeißen, war ein so absurder Gedanke, daß seine Kollegen unter anderen Umständen wohl laut losgelacht hätten. Und bei anderem Wetter. Und wenn sie nicht gewußt hätten, daß ihnen genau fünf Tage blieben, um diesen Fall zu klären. Falls sie nicht in der Nacht zum nächsten Sonntag irgendwo eine neue Blutlache mit einer neuen Nummer untersuchen wollten. Ihnen blieben fünf Tage. Also gingen sie jetzt wohl am besten ans Werk.
Kristine Håverstad hatte das Gefühl, sich einem Abgrund zu nähern. Neun Tage waren vergangen. Neun Tage und acht Nächte. Sie hatte mit niemandem gesprochen. Natürlich war es zu dem einen oder anderen Wortwechsel mit ihrem Vater gekommen, aber noch immer schlichen sie vorsichtig umeinander herum. Im tiefsten Herzen wußten sie wohl beide, daß der andere reden wollte, aber wie sie anfangen und wie sie dann weitermachen sollten, das wußten sie einfach nicht. Sie konnten ihr enges Verhältnis, das die Kommunikation unmöglich machte, nicht durchbrechen. Einen einzigen Sieg konnte sie für sich verbuchen. Das Valium war im Klo gelandet. An seine Stelle war der Alkohol getreten. Ihr Vater hatte sie ängstlich gemustert, hatte aber nicht protestiert, als sein Rotweinvorrat zur Neige gegangen war und sie um Nachschub gebeten hatte. Am nächsten Tag hatten in der Speisekammer hinter der Küche zwei Kästen gestanden.
Bekannte hatten angerufen und Besorgnis bekundet. Sie hatte seit einer Woche keinen Fuß mehr in den Lesesaal gesetzt. Zum erstenmal seit vier Jahren. Sie schaffte es, sich zusammenzunehmen, sich nichts anmerken zu lassen, über eine heftige Grippe zu klagen und zu versichern, nein, Besuch sei nicht nötig, sie wolle doch niemanden anstecken. Mach’s gut, wir sehen uns bald. Kein Wort über das Entsetzliche. Darüber gab es nichts zu sagen. Sie konnte den Gedanken an die Aufmerksamkeit, die sich dann auf sie richten würde, nicht ertragen. Sie erinnerte sich nur zu gut an die Studentin der Tiermedizin, die vor zwei Jahren nach einigen Tagen der Abwesenheit wieder im Lesesaal erschienen war. Sie hatte ihren engsten Freunden erzählt, daß sie nach einem ziemlich heftigen Fest von einem Kommilitonen vergewaltigt worden sei. Bald darauf hatten es alle gewußt. Die Polizei hatte die Ermittlungen eingestellt, und die Frau war Kristine seither vorgekommen wie eine eingetrocknete Blume. Damals hatte sie sie sehr bedauert. Sie hatte zusammen mit ihren Freundinnen geschimpft und um den beschuldigten Großkotz aus Bærum einen Bogen gemacht. Aber sie hatten dem Opfer gegenüber niemals irgendeine Initiative ergriffen. Im Gegenteil, der Frau schien etwas anzuhaften, etwas Unvernünftiges und Unerklärliches. Sie glaubten ihr, die Studentinnen jedenfalls. Aber sie wirkte so hilflos und schien mit jeder Geste zu sagen, die anderen sollten ihr vom Leibe bleiben.
Kristine Håverstad wollte niemals so werden.
Das Schlimmste war der Anblick ihres Vaters, dieses großen, kräftigen Mannes, der immer dagewesen, immer der erste gewesen war, bei dem sie Trost gesucht hatte, wenn die Welt zu hart mit ihr umgegangen war. Aus den letzten Winkeln und Ecken in ihr krochen Schuldgefühle hoch, wenn sie an all die Male dachte, da sie nicht zu ihm gegangen war, um etwas Schönes mit ihm zu feiern. Sie hatte sich nie überlegt, welche Belastung es für ihn gewesen sein mußte, sie allein großzuziehen. Schon immer war ihr klar, daß sie im Grunde daran schuld war, daß er keine neue Frau gefunden hatte. Aber sie hatte das richtig gefunden; sie war ein kleines Kind, auf das Rücksicht genommen werden mußte. Sie hatte keine neue Mutter gewollt. Daß er vielleicht ein Bedürfnis nach einer Frau verspürt hatte, war ihr erst als Erwachsener aufgegangen. Sie schämte sich zutiefst. Nicht das Gefühl, zerstört zu sein, war das Schlimmste. Schlimmer war das Gefühl, daß ihr Vater zerstört war.
Sie war bei der Sozialberaterin gewesen. Die Frau hatte ausgesehen wie eine Sozialberaterin und sich benommen wie eine Sozialberaterin, hatte sich aber offenbar als Psychiaterin gefühlt. Es hatte nichts gebracht. Hätte Kristine Håverstad nicht gewußt, wie wichtig es ist, nicht gleich aufzugeben, dann hätte sie diese Besuche sofort eingestellt. Aber sie wollte der Sozialberaterin noch eine Chance geben.
Zunächst
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