Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
aber wollte sie einen Ausflug ins Wochenendhaus machen. Sie nahm nicht viel mit. Das war nicht nötig. Sie wollte doch nur zwei Tage bleiben. Höchstens. Und Lebensmittel konnte sie beim Dorfkaufmann bekommen.
Ihr Vater hatte beinahe froh gewirkt, als sie ihm das gestern abend erzählt hatte. Er hatte ihr sehr viel Geld gegeben und sie ermuntert, eine Weile dort zu bleiben. Er habe in der Praxis so viel zu tun, hatte er beim Abendessen gesagt und seinen Teller noch einmal gefüllt. In der letzten Woche hatte er abgenommen. Er war zwar so kräftig, daß man ihm das nicht direkt ansah, aber Kristine merkte doch, daß seine Kleider lockerer saßen. Und auch sein Gesicht hatte sich verändert; es war nicht gerade schmaler geworden, aber es war schärfer gezeichnet und hatte tiefere Falten bekommen. Sie selbst hatte drei Kilo eingebüßt, drei Kilo, die sie eigentlich nicht entbehren konnte.
In einer Art Versuch, ihrem Vater eine Freude zu machen, hatte sie sich zu diesem Ausflug entschlossen, obwohl sie keine besondere Lust dazu hatte. Außerdem war ihr Chef ziemlich sauer gewesen, als sie ihn angerufen und gesagt hatte, daß die Grippe ziemlich zäh sei und sie wohl in den nächsten beiden Tagen noch nicht wieder arbeiten könne. Ihr Vertretungsjob beim Blauen Kreuz war weder gut bezahlt noch besonders spannend, und sie wußte selbst nicht so recht, warum sie ihn nun schon seit über einem Jahr hatte. Vielleicht lag es daran, daß sie Alkoholiker mochte. Sie waren die dankbarsten Menschen auf der Welt.
Im Hauptbahnhof war viel los. Sie mußte fast zwanzig Minuten nach ihrer Fahrkarte anstehen, bezahlte und ging in die Bahnhofshalle. Ihr Zug fuhr erst in zwanzig Minuten.
Sie durchquerte die Halle und ging zu einem Zeitungskiosk. Die Boulevardblätter brachten fast identische Schlagzeilen über eine weibliche Leiche, die in einem abgelegenen Garten gefunden worden war. Die Polizei arbeite auf Hochtouren, war da zu lesen. Das konnte sie sich vorstellen. In ihrem Fall taten sie jedenfalls nichts. An diesem Morgen hatte ihre Anwältin Linda Løvstad sie angerufen und bedauernd mitgeteilt, es gebe nichts Neues. Aber sie hatte versprochen, sich zu melden.
Kristine Håverstad kaufte eine Zeitung, legte das abgezählte Geld auf den Tresen und steuerte den Bahnsteig an. Sie las im Gehen ein wenig und wäre fast auf einer Würstchentüte ausgerutscht. Das sollte sich nicht wiederholen, deshalb faltete sie die Zeitung zusammen und steckte sie in ihre Tasche. Und dann sah sie ihn. Geschockt und vollständig gelähmt stand sie einige Sekunden reglos da. Er war es. Der Vergewaltiger. Quicklebendig wanderte er an einem heißen Juninachmittag im Osloer Hauptbahnhof herum. Er sah sie nicht, denn er war in ein Gespräch mit seinem Begleiter vertieft. Er sagte offenbar etwas Witziges, denn der andere warf den Kopf in den Nacken und lachte laut.
Ein heftiges Zittern setzte an ihren Knien ein, kroch ihre Oberschenkel hinauf und machte es Kristine Håverstad unendlich schwer, eine Bank zu erreichen, auf die sie sich, mit dem Rücken zum Vergewaltiger, fallen ließ. Aber nicht nur die Tatsache, daß er wirklich existierte, schockierte sie.
Noch erschütternder war, daß sie nun wußte, wie sie ihn ausfindig machen konnte.
Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt stand Kristines Vater in der Wohnung seiner Tochter und schaute aus dem Fenster. Das Haus gegenüber war nicht renoviert. Der Putz war abgeblättert, und zwei Fenster sahen undicht aus. Die Wohnungen schienen aber trotzdem bewohnt zu sein, einige sahen sogar gemütlich aus, zumindest aus dieser Entfernung. Nirgends regte sich etwas. Die meisten Leute waren wohl bei der Arbeit. In einem Fenster im zweiten Stock, schräg links ihm gegenüber, entdeckte er jedoch eine Gestalt. Es schien sich um einen Mann zu handeln. Die Entfernung zwischen Fensterrahmen und Gesicht deutete an, daß er in einem tiefen Sessel saß. Der Mann mußte einen perfekten Ausblick auf Kristines Wohnung haben.
Finn Håverstad sprang auf und stürzte aus der Wohnung. Sorgfältig verschloß er das Haupt- und die beiden Sicherheitsschlösser, die er selbst mit so wenig Nutzen eingebaut hatte. Als er auf der Straße stand, überlegte er kurz, welche Klingel wohl zu der Wohnung gehörte, in die er gerade gestarrt hatte. Die Klingeln waren nicht beschriftet, aber darauf ließ er es ankommen. Zweiter Stock links. Dritte Klingel unten links. Nach wenigen Sekunden hörte er den Summer. Das charakteristische elektrische
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