Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Freitag.« Er lächelte breit.
»Ich auch«, sagte sie und gab sich Mühe, glaubwürdig zu klingen.
Sie lehnten sich über die Brüstung und betrachteten den riesigen offenen Raum unter ihnen. Auf der einen Seite des Foyers hielten sich ungewöhnlich wenige Menschen auf.
»Im Moment braucht wohl niemand einen Paß«, sagte Håkon Sand in dem Versuch, eine Erklärung dafür zu finden, warum die Frauen in der Paßabteilung, die sonst immer so viel zu tun hatten, sich jetzt müßig miteinander unterhielten. »Falls nicht irgendwer einen Ausflug nach Alaska unternehmen will. Oder nach Spitzbergen. Aber dazu braucht man ja keinen Paß«, fügte er verlegen hinzu.
Wenn auch seine Landsleute keine Pässe wollten, so war doch die andere Hälfte der Abteilung um so dichter bevölkert. An der Wand, hinter der die Büros der Fremdenpolizei lagen, drängten sich die Ausländer. Sie sahen düster aus, aber immerhin schien ihnen die Hitze weniger zu schaffen zu machen.
»Was in aller Welt treiben die da unten eigentlich?« fragte Hanne. »Zählen die alle Ausländer durch oder was?«
»So ungefähr. Die veranstalten wieder eine von diesen Schwachsinnsaktionen. Kämmen sämtliche öffentlichen Aufenthaltsorte durch, krallen sich alle mit schwarzen Haaren und überprüfen, ob sie eine Aufenthaltsgenehmigung haben. Schöne Energieverschwendung. Vor allem im Moment!«
Er seufzte. In zwanzig Minuten mußte er im Gericht sein.
»Der Kriminaldirektor behauptet, wir hätten mehr als fünftausend illegale Ausländer hier in der Stadt. Fünftausend! Ich glaub ‘ kein Wort davon! Wo sollten die sich denn verstecken?«
Hanne Wilhelmsen fand die Zahl gar nicht so unwahrscheinlich. Was sie störte, war, daß dringend gebrauchte Kräfte eingesetzt wurden, um diese Leute zu finden. Vor kurzem erst hatte sie den Leiter der Ausländerbehörde im Radio sagen hören, sie »verlören« außerdem pro Jahr fünfzehnhundert Asylbewerber. Menschen, die registriert seien, sich aber nie wieder blicken ließen. Dann wären es ja nur noch dreieinhalbtausend, dachte sie müde.
»Die Hälfte von denen sitzt offenbar da unten«, antwortete sie auf die lange zurückliegende Frage und zeigte auf die Menschenmenge.
Håkon Sand schaute auf die Uhr. Er mußte sich beeilen.
»Wir sehen uns nachher«, rief er und rannte los.
Das Ganze war die pure Bagatelle. Zwei Flüchtlinge hatten im Asylantenheim Urtegata bei einer Streiterei ums Essen die Fäuste benutzt. Ein Iraner, ein Kurde. Håkon Sand fand es ganz natürlich, daß sie ab und zu ausrasteten. Beide warteten schon über ein Jahr auf ihren Asylbescheid. Beide waren junge Männer im besten arbeitsfähigen Alter. Sie konnten pro Woche fünf Stunden Norwegischunterricht nehmen. Die übrige Zeit war ein Meer von Frustration, Unsicherheit und großer Angst.
Aber wie auch immer, sie waren an einem Freitag abend übereinander hergefallen. Was beim Schwächeren zu einem gebrochenen Nasenbein geführt hatte. Beim Kurden. Und hier war § 229 des Strafgesetzbuches anzuwenden. Obwohl der Iraner seinerseits ein dickes Klitschauge davongetragen hatte, waren eifrige Beamte darauf bedacht gewesen, daß auch bei dieser Bagatelle der Gerechtigkeit Genüge geschah. Der Junge wurde von einem Pflichtverteidiger vertreten, der vermutlich kaum ein Wort mit ihm gewechselt und erst recht nicht die Akten studiert hatte. Aber es lief alles routinemäßig ab. Auch bei Håkon Sand.
Gerichtssaal 8 war winzig klein und schrecklich heruntergekommen. Es gab natürlich keine Klimaanlage, und der Straßenlärm machte es unmöglich, ein Fenster zu öffnen. Nachdem vor einigen Jahren der Bau eines neuen Gerichtes beschlossen worden war, wurden für das alte keine fünf Öre mehr aufgewendet. Obwohl es mit dem Neubau seine Zeit dauerte.
Die schwarze Robe, die vor ihm schon Hunderte von Staatsanwälten getragen hatten, roch überhaupt nicht gut. Das war heute nicht anders als sonst. Håkon seufzte resigniert und blickte zu den Anwälten jenseits der Schranke hinüber. Ihre Blicke begegneten sich, und sie beschlossen in aller Stille, die Sache rasch hinter sich zu bringen.
Der zweiundzwanzigjährige Iraner machte als erster seine Aussage. Ein Dolmetscher mit absolut ausdruckslosem Gesicht übersetzte. Und offenbar redigierte er gleich: Zuerst sprach der Angeklagte drei Minuten lang, dann übersetzte der Dolmetscher in dreißig Sekunden. Normalerweise irritierte das Håkon Sand, an diesem Tag aber schaffte er es nicht, sich
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