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Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Titel: Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Blick auf die Auffahrt des Hauses bot, für das Finn Håverstad sich interessierte. Als der Golf losfuhr, setzte er sein Auto in die freie Nische. Dann drehte er ein wenig das Radio auf und ließ sich tiefer in den Sitz sinken.
    Er arbeitete schon an einem Alternativplan. Er konnte klingeln und irgendeine Frage stellen. Oder irgend etwas zum Verkauf anbieten. Dann blickte er an sich herunter und stellte fest, daß er keinerlei Ähnlichkeit mit einem Vertreter aufwies. Und er hatte auch nichts zu verkaufen. Um zwanzig vor acht kam das Auto. Ein knallroter Opel Astra. Er hatte getönte Fensterscheiben, und deshalb konnte Håverstad den Fahrer nicht sehen. Die Garagentür öffnete sich automatisch, als der Opel in die Einfahrt bog. Es ging dem Fahrer offenbar zu langsam, denn er ließ ungeduldig den Motor aufheulen, während er darauf wartete, daß die Türöffnung groß genug wurde, um ihn passieren zu lassen.
    Kaum war er in der Garage verschwunden, da tauchte der Mann auch schon wieder auf. Er drehte sich sofort zu dem offenen Loch um. Håverstad sah, daß er einen kleinen Gegenstand in der Hand hielt, vermutlich den Türöffner. Die Garagentür senkte sich, und der Mann lief über einen schmalen Plattenweg auf die Haustür zu.
    Das war er. Der Vergewaltiger. Es gab nicht die Spur eines Zweifels. Erstens entsprach er haargenau Kristines Beschreibung. Und zweitens, was sehr viel wichtiger war: Finn Håverstad spürte es. Er wußte es in dem Moment, als der Mann aus der Garage kam und sich umdrehte.
    Er hatte sein Gesicht nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen, aber das reichte.
    Der Vater von Kristine Håverstad, die am 29.   Mai in ihrer Wohnung brutal vergewaltigt worden war, wußte nun, wer seine Tochter überfallen hatte. Er hatte Namen, Adresse und Personenkennummer. Er wußte, welches Auto der Mann fuhr und welche Vorhänge er hatte. Er wußte sogar, daß er gerade erst seinen Rasen gemäht hatte.
    »Bist du doch nicht gefahren?« fragte er überrascht. Er kam genau in dem Moment nach Hause, als die Sonne Feierabend machte.
    Als sie sich umdrehte, um ihm zu antworten, war es schlimmer für ihn denn je. Trotz ihrer Größe sah sie aus wie ein Vögelchen. Sie ließ die Schultern hängen, und ihre Augen waren tief eingesunken. Der Zug um ihren Mund erinnerte ihn immer stärker an seine verstorbene Frau.
    Es war nicht zu ertragen.
    »Setz dich doch«, bat er, ohne auf eine Erklärung für ihre veränderten Pläne zu warten. »Setz dich zu mir.«
    Er klopfte neben sich auf das Sofa. Sie setzte sich ihm gegenüber in den Sessel. Ziemlich verzweifelt versuchte er, ihren Blick aufzufangen, aber es gelang ihm nicht.
    »Haben wir Bier?«
    Haben wir Bier. Sie sprach immerhin von »wir«. Das war doch schon etwas. Gleich darauf hatte er das Weinglas mit einem schäumenden Humpen vertauscht. Seine Tochter leerte ihn mit einem Zug um die Hälfte.
    Sie war stundenlang durch die Straßen gegangen. Das erwähnte sie nicht. Sie war in ihrer Wohnung gewesen. Davon erzählte sie auch nichts. Und sie hatte herausgefunden, wer der Täter war. Auch das wollte sie ihm nicht sagen.
    »Draußen«, sagte sie statt dessen leise. »Ich war draußen.« Dann breitete sie die Arme aus. Sie stand mit ausgestreckten Armen auf und verharrte wie erstarrt in verzweifelter Haltung. »Was soll ich machen, Papa? Was soll ich bloß machen?«
    Plötzlich hätte sie ihm so gern erzählt, was sie an diesem Nachmittag gesehen hatte. Sie hätte ihm gern alles aufgeladen, ihrem Vater die Führung, die Verantwortung, ihr Leben überlassen.
    Sie nahm einen Anlauf, aber dann sah sie plötzlich, wie er sich vorbeugte und den Kopf zwischen die Knie steckte.
    Kristine Håverstad hatte ihren Vater bisher zweimal weinen sehen. Das eine Mal war eine ferne, verwischte Erinnerung von der Beerdigung ihrer Mutter. Das andere Mal lag erst drei Jahre zurück; damals war ihr Großvater unerwartet und mit nur siebzig Jahren nach einer harmlosen Prostataoperation gestorben.
    Als sie sah, daß er weinte, wußte sie, daß sie ihm nichts erzählen konnte. Statt dessen setzte sie sich zu ihm und zog seinen großen Kopf auf ihren Schoß.
    Aber es dauerte nicht lange. Er erhob sich abrupt, wischte sich kurz über die Augen und legte vorsichtig seine Hände um ihr schmales Gesicht.
    »Ich bringe ihn um«, sagte er langsam.
    Er hatte schon oft gedroht, sie und andere umzubringen, wenn er richtig gereizt gewesen war. Sie dachte darüber nach, wie sinnlos doch eine solche

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