Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
per Klimaanlage kühl gehaltenen Bahnhofshalle, reckten sich im guten Wetter und beschlossen, zu Fuß zu gehen. Ein dunkelhäutiger Fahrer lehnte an der Motorhaube und las eine fremdsprachige Zeitung. Sie ging zu ihm hinüber, nannte die Adresse ihres Vaters und erkundigte sich nach dem Fahrpreis. So um die hundert Kronen, meinte der Mann. Sie gab ihm einen Hunderter und ihre Tasche, fragte noch einmal, ob er sich die Adresse gemerkt habe, und bat ihn, die Tasche unter die Treppe zu legen.
»Es ist ein großes weißes Haus mit grünen Fensterrahmen«, rief sie in das offene Taxifenster, als er anfuhr.
Ein nackter, behaarter Unterarm winkte munter bejahend aus dem Fenster, und der Mercedes verschwand.
Sie spazierte in Richtung Homansbyen.
Sie haßte diesen Mann mit Leidenschaft. Seit er sie an dem Samstag abend vor einer Ewigkeit von einer Woche zerstört hatte, hatte sie nichts als Ohnmacht und Trauer empfunden. Stundenlang war sie durch die Straßen gewandert, mit einer Wäschetrommel voller Gefühle, die sie nicht auseinandersortieren konnte. Vor zwei Tagen hatte sie an den Gleisen des Bahnhofs Majorstua gestanden, gleich hinter einer Kurve, unsichtbar für alle, auch für den Zugführer. Starr war sie stehen geblieben und hatte den Zug kommen hören. Nur einen Meter von den Gleisen entfernt. Als der erste Wagen plötzlich um die Kurve gebogen war, hatte sie nicht einmal sein schrilles Signal gehört. Sie war einfach wie gefesselt stehen geblieben und hatte nicht einmal mit dem Gedanken gespielt, sich vor den Zug zu werfen. Der Zug war an ihr vorbeigesaust, und der Luftzug war so stark gewesen, daß sie einen Schritt hatte zurücktreten müssen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Und doch hatten nur wenige Dezimeter ihr Gesicht von dem vorüberdonnemden Zug getrennt.
Aber nicht sie war es, die das Leben nicht verdient hatte. Er war derjenige.
Jetzt hatte sie ihre Wohnung erreicht. An der Tür zögerte sie einen Moment. Dann schloß sie auf.
Alles war unverändert. Es verblüffte sie, daß die Wohnung so einladend wirkte, so gemütlich. So anheimelnd. Langsam ging sie umher und berührte ihre Gegenstände, fuhr mit den Fingern darüber und spürte, daß sich überall eine hauchdünne Staubschicht gebildet hatte. Im hellen Tageslicht sah sie die Staubkörner tanzen, als freuten sie sich, daß sie wieder da war. Sie öffnete vorsichtig und unsicher den Kühlschrank. Es roch ein wenig streng, und sie nahm Lebensmittel heraus, die schon Schimmel angesetzt hatten. Einen Käse, zwei Tomaten und eine Gurke, die »schwapp« sagte, als sie sie anfaßte. Sie stellte die Mülltüte neben die Haustür, um sie nachher nicht zu vergessen.
Die Schlafzimmertür stand offen. Zögernd ging sie in den Flur, wo die Tür ihr den Blick versperrte. Sie überlegte einen Moment und trat dann entschlossen ins Zimmer.
Sie fragte sich, wer wohl das Bett gemacht hatte. Sorgfältig zusammengefaltet lagen Decken und Kissen am Fußende auf der Matratze. Das Bettzeug, das sie selbst abgerissen hatte, war verschwunden. Natürlich, das war jetzt sicher im Labor.
Ohne daß sie es eigentlich wollte, wanderte ihr Blick zu den beiden Holzkugeln, die die Pfosten am Fußende schmückten. Schon von der Tür aus konnte sie die dunklen Kratzer von dem Stahldraht sehen, der daran befestigt gewesen war. Jetzt war er verschwunden. Überhaupt erinnerte in der kleinen gemütlichen Wohnung nichts mehr an das, was am Samstag, dem 29. Mai, dort passiert war. Sie bildete da die einzige Ausnahme.
Behutsam setzte sie sich aufs Bett. Dann sprang sie auf, warf die Decken auf den Boden und starrte die Mitte der Matratze an. Aber auch dort sah sie nur das, was schon vorher zu sehen gewesen war; einige Flecken, deren Herkunft sie kannte. Sie setzte sich wieder hin.
Sie haßte den Mann von ganzem Herzen. Mit einem guten, befreienden und alles verzehrenden Haß, der ihr Rückgrat stützte wie ein Stahlbalken. Aber das ging ihr erst seit heute so. Den Mann einfach so umherwandern zu sehen, als ob nichts geschehen, als ob ihr Leben eine Bagatelle sei, die er an einem zufälligen Samstag abend ruiniert hatte, das war ein Segen gewesen. Jetzt hatte sie jemanden, den sie hassen konnte.
Er war nicht länger ein abstraktes Ungeheuer, dem sie nur schwer ein Gesicht zuschreiben konnte. Bisher war er kein Mensch gewesen, nur eine Größe, ein Phänomen. Etwas, das in ihr Leben eingebrochen war und es verwüstet hatte wie ein Orkan oder ein Krebsgeschwür; etwas,
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