Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
zu sein, Hanne?« fragte er leise.
Sie nickte leicht. Das ging allen bisweilen so. Und ihr immer häufiger, wenn sie ehrlich war.
»Sieh dir die Stadt an«, sagte er dann. »Wie viele Verbrechen geschehen da wohl? Jetzt, in diesem Moment?«
Beide schwiegen.
»Und hier stehen wir und können nicht anders«, fügte er nach einer Weile hinzu.
»Komisch, daß die Leute nicht protestieren«, sagte Hanne.
»Tun sie doch«, erwiderte Billy T. »Tun sie wie bescheuert. Wir werden doch jeden verdammten Tag angemacht, in den Zeitungen, in den Mittagspausen, auf Festen. Wir stehen nicht gerade hoch im Kurs, das kann ich dir sagen. Und ich kann die Leute gut verstehen. Unheimlich wird’s erst, wenn ihnen das Klagen nicht mehr genügt.«
Es war wirklich angenehm, so zu stehen. Er roch nach Mann und nach Lederjacke, und sein Schnurrbart kitzelte ihre Wange. Sie nahm seine Arme und legte sie fester um sich herum.
»Warum hörst du nicht mit der ganzen Geheimniskrämerei auf, Hanne?« fragte er leise, fast flüsternd.
Er spürte, wie sie erstarrte und sich gleich darauf zu befreien suchte, aber darauf war er vorbereitet, und er hielt sie fest.
»Laß den Quatsch und hör mir zu. Alle wissen, daß du eine großartige Polizistin bist. Verdammt, so einen sauguten Ruf wie du hat wohl kaum jemand. Und alle mögen dich. Überall hört man nur Gutes über dich.«
Sie versuchte noch immer, sich zu befreien. Aber dann ging ihr auf, daß ihr in dieser Haltung immerhin der Blickkontakt mit ihm erspart blieb. Also ergab sie sich in ihr Schicksal, aber es war ihr alles andere als angenehm.
»Ich habe mich oft gefragt, ob du über die Gerüchte Bescheid weißt. Denn es kursieren welche, verstehst du. Vielleicht nicht mehr so wüst wie früher, aber die Leute sind neugierig, das kannst du dir ja denken. Eine tolle Frau wie du, und dann keine einzige Männergeschichte.«
Sie konnte sein Lächeln förmlich hören, obwohl sie einen Punkt weit drüben auf dem Ekebergås anstarrte.
»Das muß anstrengend sein, Hanne. Verdammt anstrengend.«
Sein Mund war jetzt so nahe an ihrem Ohr, daß sie spürte, wie seine Lippen sich bewegten.
»Ich wollte dir nur sagen, daß die Leute nicht so bescheuert sind, wie du glaubst. Sie flüstern und tuscheln eine Runde, und dann ist es wieder gut. Wenn etwas bestätigt worden ist, dann ist es nicht mehr so interessant. Du bist eine tolle Frau. Nichts kann daran etwas ändern. Ich finde, du solltest mit deiner Geheimniskrämerei aufhören.«
Dann ließ er sie los. Aber sie wagte nicht, sich zu bewegen. Wie angenagelt blieb sie stehen und hatte entsetzliche Angst davor, daß er ihr Gesicht sehen könnte. So standen sie einige ewig lange Sekunden da, während unter ihnen in der Stadt ein Licht nach dem anderen ausging.
DIENSTAG, 8. JUNI
Niemand trank noch Kaffee. Alle waren zu Cola übergegangen. Der bloße Gedanke, etwas Heißes durch die ausgedörrte Kehle fließen zu lassen, war widerlich. Ein Bierverkauf im Foyer wäre eine Goldgrube gewesen. Der kleine Kühlschrank im Pausenraum gab resigniertes Stöhnen von sich und seufzte angesichts der vielen in ihn gepferchten Plastikflaschen, die nicht einmal in Ruhe kalt werden durften, bevor sie wieder herausgerissen wurden.
An diesem Morgen führte Hanne Wilhelmsen für die Angestellten der Abteilung A 2.11 Eistee ein. Um sieben Uhr morgens, ohne eine einzige Stunde geschlafen zu haben, wanderte sie herum und scheuerte sämtliche koffeinüberwucherten Kaffeemaschinen. Dann kochte sie insgesamt vierzehn Liter starken Tee. Sie mischte den Tee in einem riesigen Brennereikessel aus Stahl mit massenhaft Zucker und zwei Flaschen Zitronenessenz. Den Kessel hatte sie aus der Asservatenkammer ausgeliehen. Schließlich füllte sie das Gefäß bis zum Rand mit zerstoßenem Eis, das sie sich in der Kantine erbettelt hatte. Es wurde der Supererfolg. Für den Rest des Tages liefen alle mit randvollen Kantinengläsern durch die Gegend und schlürften Eistee, überrascht, daß bisher niemand auf diese Idee gekommen war.
»Ich hatte Gott sei Dank alle aufgehoben«, stöhnte Erik Henriksen erleichtert und überreichte Hanne Wilhelmsen zwölf Tips im Fall Kristine Håverstad.
Es war der Juristenstapel. Der, über den sie gelacht hatten. Den wegzuwerfen sie ihm glücklicherweise verboten hatte. Sie brauchte eine Viertelstunde, um alles durchzusehen. Ein Tip fiel besonders auf und war noch dazu zweimal eingegangen. »Die Zeichnung im Dagbladet vom 1. Juni hat eine
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