Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
empfand – anders als die meisten ihrer Kollegen – eine Art Respekt vor Psychologen. Sie redeten viel Unsinn, das fand sie ja auch, aber einiges war doch vernünftig. Es war immerhin eine Wissenschaft. Mehrere Male hatte sie durchgesetzt, daß psychologische Profile von unbekannten Tätern erstellt worden waren. Diesmal war das nicht nötig. Als sie sich auf der Bank zurücksinken ließ und feststellte, daß es inzwischen fast vollständig dunkel war, ging ihr auf, daß die harte Wirklichkeit Europas das kriminelle Norwegen längst eingeholt hatte. Das wollte nur niemand zugeben. Es war zu beängstigend. Vor zwanzig Jahren waren Serienmörder eine Spezialität der USA gewesen. Während der letzten zehn Jahre hatten sie auch von entsprechenden Fällen in England gehört.
In den norwegischen Gerichtsannalen waren nicht viele Massenmorde verzeichnet. Und die wenigen, die es gab, hatten jeweils ihre eigene wahnwitzige und traurige Vorgeschichte. Die Kollegen in Halden hatten gerade erst einen Fall geklärt. Vermutlich hatte ein und derselbe Mann über einen längeren Zeitraum hinweg zufällige Morde begangen, offenbar aus keinem anderen Motiv als aus Geldmangel. Vor einigen Jahren hatte ein junger Mann drei seiner WG -Mitbewohner in Slemdal umgebracht. Weil sie die dreißigtausend Kronen eingefordert hatten, die er mit der Miete im Rückstand war. Der Mann sei durchaus nicht verrückt, hatten die gerichtspsychiatrischen Gutachten erklärt.
Aber was trieb den Samstagsmann um? Da konnte sie nur spekulieren. Aus der Fachliteratur wußte sie, daß Verbrecher den mehr oder weniger unbewußten Wunsch verspüren konnten, erwischt zu werden.
Hanne Wilhelmsen wußte aber, daß das hier nicht der Fall war.
»Es macht ihm Spaß, uns an der Nase herumzuführen«, sagte sie zu sich selbst.
»Sag mal, führst du hier Selbstgespräche?«
Sie fuhr zusammen.
Billy T. stand vor ihr.
Erschrocken musterte sie ihn einen Moment lang. Dann lachte sie.
»Ich werde wohl langsam alt.«
»Von mir aus kannst du in Ruhe alt werden«, sagte Billy T. und setzte sich auf sein Motorrad, eine riesige Honda Goldwing.
»Ich kapier’ ja nicht, daß du mit dem Bus da durch die Gegend gurkst«, grinste sie, ehe er sich den Helm aufsetzte.
Er musterte sie spöttisch, würdigte sie aber keiner Antwort.
Plötzlich sprang sie auf und rannte zu ihm hinüber. Er ließ gerade den Motor an, hörte nicht, was sie sagte, und nahm den Helm wieder ab.
»Willst du nach Hause?« fragte sie, ohne nachzudenken.
»Ja, um diese Zeit bleibt mir kaum was anderes übrig«, sagte er und schaute auf die Uhr.
»Fahren wir zusammen eine Runde?«
»Kann deine Harley es denn ertragen, mit einem Japaner gesehen zu werden?«
Über eine Stunde lang fuhren sie durch die Sommernacht. Hanne mit ohrenbetäubendem Lärm voran, Billy T. mit seidenweichem, tiefem Gebrumm hinterher. Sie fuhren über den Gamle Mossevei bis Tyrigrave und wieder zurück. Sie kreuzten alle Straßen der Stadt und hoben die Hand zum pflichtgemäßen Gruß für alle Cowboys im Lederdreß vor dem Buchladen Tanum, wo die Motorräder nebeneinander standen wie die Pferde vor einem alten Saloon. Schließlich landeten sie beim Tryvann auf einem riesigen Parkplatz, auf dem kein einziges Auto stand. Sie hielten an und stellten ihre Räder ab.
»Du kannst diesem Wetter ja einiges vorwerfen«, sagte Billy T. »Aber fürs Motorradfahren ist es wie geschaffen.«
Oslo lag offen unter ihnen. Schmutzig und staubig, unter einem Deckel aus Dreck. Der Himmel war nicht ganz schwarz und würde das auch erst Ende August wieder sein. Hier und da war ein blasser Stern zu erkennen. Die übrigen schienen auf die Erde gefallen zu sein. Die ganze Stadt war ein Teppich aus kleinen Lichtquellen, von Gjelleråsen im Osten bis Bærum im Westen. Und am Horizont lag pechschwarz das Meer. Neben dem Parkplatz, am Rande des Abhangs, der zum weiter unten gelegenen Wald führte, stand ein rot-weißer Holzbock. Billy T. setzte sich darauf, streckte die Beine aus und rief sie zu sich.
»Komm her«, sagte er und zog sie an sich.
Sie stand zwischen seinen Beinen und lehnte den Rücken an seinen Brustkasten. Widerwillig ließ sie sich halten. Er war so groß, daß ihr Kopf sich neben seinem befand, obwohl er saß und sie fast aufrecht stand. Er legte seine riesigen Arme um sie und schmiegte seinen Kopf an ihren. Mit einer gewissen Überraschung registrierte sie, wie sie sich entspannte.
»Findest du es manchmal doof, bei der Bullerei
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