Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
spürte denselben schrecklichen Schmerz wie bisher. Seine Haut war wie betäubt, und alle Empfindungen seines Körpers schienen sich auf den Magenbereich zu konzentrieren. Er war entsetzlich erschöpft. Er hatte kaum geschlafen. Aber jetzt hatte er eine Aufgabe. Er mußte jemanden finden, den er hassen konnte.
Finn Håverstad suchte seine Notizen zusammen, stopfte sie in die Hosentasche und machte sich auf, um sich diese beiden Männer etwas genauer anzusehen.
Cecilie hatte sich ohne Klagen mit einem weiteren Arbeitsabend abgefunden. Sie war strahlender Laune. Hanne Wilhelmsen ging das anders. Es war fast sieben, und sie saß mit Håkon Sand und Hauptkommissar Kaldbakken im Bereitschaftsraum. Die anderen waren schon nach Hause gegangen. Sie mußten zwar gegen eine unbarmherzige Frist anarbeiten, aber es gab keinen Grund, die Leute jetzt schon in die vollständige Erschöpfung zu treiben.
Hanne Wilhelmsen hatte wie immer den ganzen Fall aufgezeichnet. Mitten im Zimmer stand breitbeinig ein Overheadprojektor. Die Polizeibeamtin hatte eine Zeitlinie gezeichnet, die am 8. Mai anfing und am heutigen Tag endete. Vier Samstagsmassaker in fünf Wochen. Aber keins am 29. Mai.
»Vielleicht haben wir das ja einfach noch nicht entdeckt«, sagte Håkon Sand. »Es könnte trotzdem stattgefunden haben.«
Kaldbakken schien diese Meinung zu teilen. Vielleicht aber nur, weil auch er nach Hause wollte. Er war erschöpft und hatte sich noch dazu eine Sommererkältung zugelegt, die den Umgang mit seinen Atemwegen nicht gerade erleichterte.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Hanne und rieb sich das Gesicht. Sie ging zum schmalen Fenster hinüber und starrte in den Sommerabend hinaus, der sich über die Hauptstadt senkte. Sie schwieg sehr lange.
»Jetzt bin ich ziemlich sicher«, erklärte sie plötzlich und drehte sich um. »Am Samstag, dem 29. Mai, ist etwas passiert. Aber es war kein Samstagsmassaker.«
Im Reden wuchs ihr Eifer. Sie schien eher sich selbst überzeugen zu wollen als die anderen.
»Kristine Håverstad«, rief sie. »Kristine Håverstad wurde am 29. Mai vergewaltigt.«
Niemand versuchte, das zu bestreiten. Aber sie begriffen nicht, was das mit der Sache zu tun haben sollte.
»Wir müssen los«, sagte sie laut, rief es fast. »Wir treffen uns in Kristines Wohnung.«
Der erste, der aus Lambertseter, konnte es offenbar nicht sein. Das Auto war nicht rot. Andererseits: Der Alte aus dem ersten Stock konnte sich geirrt haben. Er hatte zwar ein rotes Auto gesehen, aber aus E’s Notizen ging unzweifelhaft hervor, daß während dieser Nacht mehrere unbekannte Autos in der Gegend abgestellt worden waren.
Nein, entscheidend war das Aussehen des Mannes. Um halb sechs war er gekommen. Finn Håverstad hatte das Auto sofort gesehen. Es bog in einem ruhigen Wohngebiet mit schmalen nichtasphaltierten Straßen um die Ecke. Der Mann hatte es offenbar eilig, denn er machte sich nicht die Mühe, seinen Wagen in die Garage zu fahren. Als er aus dem Volvo stieg, konnte Finn Håverstad ihn deutlich sehen, er stand nur fünfzehn Meter entfernt und hatte das ziemlich neue Haus bestens im Blick.
Der Mann hatte die richtige Größe, so um die Eins fünfundachtzig. Aber er war fast kahl, nur ein dunkler Kranz um eine riesige Platte zeigte, daß er niemals ein blonder Knabe gewesen war.
Und er war dick.
War nur noch einer übrig. Der Mann in Bærum. Finn Håverstad fürchtete, es könne seine Zeit brauchen, so daß er im schlimmsten Fall diesen Burschen heute nicht mehr zu sehen bekam. Es war schon nach sieben, und aller Wahrscheinlichkeit nach war der Mann längst von der Arbeit nach Hause gekommen. Håverstad hatte seinen eigenen Wagen ordentlich zu den anderen gestellt, die an der mittelstark befahrenen Straße parkten. Es handelte sich um ein Reihenhaus, und jedes Haus hatte seine eigene Garagenauffahrt. Er hatte zunächst nicht gewußt, wo er sich hinstellen sollte. Zu Fuß hätte er wahrscheinlich nach einer Weile Aufmerksamkeit erregt, denn die Gegend war übersichtlich, und alle Leute waren irgendwohin unterwegs. In der Nähe gab es keine Stelle, an der sich aufzuhalten natürlich wirken würde, keine Bank, auf der er mit seiner Zeitung hätte sitzen, keinen Spielplatz, auf dem er den Kindern hätte zuschauen können. Aber das wäre in diesen Zeiten ohnehin nicht sonderlich schlau, dachte er.
Das Problem löste sich, als ein junger Mann auftauchte und in einen Golf stieg, der einen ausgezeichneten
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