Semenon und die kleine Landkneipe
findbar.
»Was denken Sie von dieser Sache?« fragte Maigret.
James zuckte die Achseln und machte eine gleichgültige Handbewegung.
»Glauben Sie, daß er über die Grenze gekommen ist?«
»Er wird nicht weit sein. Ich vermute, er drückt sich in Paris herum.«
»Warum meinen Sie das?«
»Ich glaube es. Er hatte doch gewiß eine Absicht, als er davonlief … Kellner, zwei Per!« Nach dem dritten Glas geriet Maigret in einen Zustand, an den er nicht gewöhnt war. Er war nicht gerade betrunken, aber ganz klar war er auch nicht mehr.
Er fühlte sich dabei wohl. Er dachte ohne Sorge an den Fall, ja fast mit einem gewissen Vergnügen.
James sprach von allem möglichen, doch ohne sichtliche Anteilnahme. Um acht Uhr erhob er sich und sagte:
»Es ist Zeit. Meine Frau wartet.«
Maigret machte sich im stillen Vorwürfe wegen der vergeudeten Stunden und der drei Gläser Pernod. Er aß eilig sein Abendessen und begab sich in die Polizeipräfektur, wo keine neuen Meldungen eingegangen waren.
Tags darauf, es war Donnerstag, trieb er die Untersuchung hartnäckig voran, ohne Elan.
Er ging zehn Jahre zurückliegende Akten durch. Doch er fand nichts, das sich auf die Bemerkungen Jean Lenoirs beziehen konnte!
Außerdem stellte er Recherchen in den verschiedenen Lungenheilstätten an – in der schwachen Hoffnung, auf Victor zu stoßen, auf Lenoirs Gefährten in jener Nacht, der an Tuberkulose erkrankt gewesen sein sollte.
Leute dieses Namens gab es. Viele. Aber der Richtige war nicht dabei.
Mittags hatte Maigret Kopfschmerzen, wenig Appetit. Sein Mittagessen aß er in dem kleinen Restaurant an der Place Dauphine, in dem viele Polizeibeamte aßen. Dann telefonierte er nach Morsang, wo seine Leute Bassos Villa bewachten.
Man hatte nichts Auffälliges bemerkt. Madame Basso und der Junge führten ihr gewohntes Leben weiter. Sie las viele Zeitungen. Die Villa hatte kein Telefon.
Um fünf Uhr nachmittags verließ Maigret das Absteigequartier in der Avenue Niel, wo er auf gut Glück hatte herumstöbern wollen, aber auch nichts herausfand.
Als gehörten diese Besuche schon zu seinen Gewohnheiten, wandte er seine Schritte zur ›Taverne Royale‹, drückte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, und setzte sich an James’ Seite nieder.
Die übliche Frage: »Was gibt’s Neues?«
Die übliche Bestellung: »Kellner, zwei Pernod!« Das Unwetter schien sich verspätet zu haben. Noch immer lagen die Straßen in grellem Sonnenlicht.
Busse voller Ausländer fuhren vorbei.
»Die einfachste, auch von den Zeitungen übernommene Hypothese ist«, erwiderte Maigret wie im Selbstgespräch, »daß Basso aus irgendeinem Grund von seinem Begleiter angegriffen worden ist, daß er die auf ihn gerichtete Waffe an sich gerissen und auf den Wäschehändler geschossen hat.«
»Ja, das ist idiotisch.«
Maigret blickte James an, der ebenfalls mit sich selbst zu reden schien.
»Wieso ist das idiotisch?«
»Weil, falls Feinstein Basso hätte töten wollen … Wenn er sich geschickt angestellt hätte … Er war ein vorsichtiger Mann … Ein guter Bridgespieler …«
Der Kommissar mußte ein Lächeln unterdrücken, so ernst hatte James das alles gesagt.
»Und Ihre Meinung?«
»Natürlich darf ich keine Meinung haben … Basso hatte es nicht nötig, mit Mado zu schlafen … Man merkt beim ersten Hinsehen, daß das eine Frau ist, die sich nicht leicht einen Mann entgehen läßt.«
»Hat ihr Mann schon einmal Eifersucht an den Tag gelegt?«
»Der?«
Seine Augen, die vor Ironie sprühten, suchten Maigrets Blick.
»Sie haben immer noch nicht verstanden?«
James zuckte die Schultern und erwiderte:
»Das geht mich nichts an … Auf jeden Fall, wenn er eifersüchtig gewesen wäre, dann wären die meisten Stammgäste von Morsang längst tot.«
»Alle zusammen haben schon …?«
»Wir wollen nicht übertreiben … Sie haben alle zusammen … Und Mado hat mit jedem getanzt. Beim Tanzen schob man sich ineinander …«
»Sie auch?«
»Ich tanze nicht«, erwiderte James.
»Es muß doch unvermeidbar gewesen sein, daß der Ehemann bemerkte, was Sie erzählen, oder nicht?«
Darauf der Engländer mit einem Seufzer:
»Ich weiß nicht! Er schuldet ihnen allen Geld!«
Einerseits konnte man James für einen Trottel oder einen abgestumpften Trinker halten. Dann war er aber auch fähig, eine
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