Semenon und die kleine Landkneipe
Wort zu sagen, und las, bis er sich zur Ruhe begab auf dem mit bunten Kissen überladenen Diwan, der ihm als Bett diente.
Jetzt verstand man den Wunsch nach der stillen Ecke besser, die Flucht hinter den Marmortisch in der ›Taverne Royale‹ …
»Gut, gehen wir hinunter«, sagte Maigret.
James atmete erleichtert auf und sprang auf die Füße.
»Gestatten Sie, daß ich mir die Schuhe anziehe.«
Er war in Pantoffeln. Obwohl er die Tür zum Badezimmer nicht schloß, bemerkte die Frau, ohne die Stimme zu dämpfen:
»Sie müssen ihn nicht zu ernst nehmen. Er ist nicht mit gewöhnlichem Maßstab zu messen …«
Sie zählte die Maschen:
»Sieben … acht … neun … Glauben Sie, daß er in dieser Sache etwas weiß?«
»Wo ist nun wieder der Schuhanzieher?« brummte James und warf Gegenstände in einem Wandschrank durcheinander.
Sie sah Maigret an, als wollte sie sagen:
»Sehen Sie, so ist er.«
Als James endlich auftauchte, bemerkte er:
»Ich bin gleich wieder da!«
»Das kenne ich.«
Er gab dem Kommissar ein Zeichen, er möge sich beeilen. Nicht nur im Zimmer, auch auf der Treppe wirkte er zu groß und fremd in dieser Umgebung. Im Nebenhaus war eine Kneipe, in der Taxifahrer verkehrten. Im Hintergrund saßen Gäste beim Kartenspiel.
»Wie gewöhnlich, Monsieur James?« fragte der Wirt, sich erhebend. Dabei griff er bereits nach der Cognacflasche.
»Und Sie?«
»Dasselbe …«
James stützte die Ellbogen auf die Theke und fragte:
»Sie waren in der ›Taverne Royale‹? Ich hab’s mir gedacht. Aber ich konnte nicht kommen.«
»Wegen der dreihunderttausend Franc?«
James verriet weder Überraschung noch Unbehagen.
»Sagen Sie wirklich, was hätten Sie an meiner Stelle getan? Basso ist ein guter Kerl. Man hat hundertmal zusammen getrunken … Auf Ihr Wohl!«
»Ich lasse Ihnen die Flasche da«, sagte der Wirt, der es eilig hatte, die unterbrochene Partie fortzusetzen.
Und ohne auf diese Worte zu achten, fuhr James fort:
»Er hat alles in allem kein Glück gehabt … Eine Frau wie Mado! Haben Sie sie übrigens wiedergesehen? Sie hat mich heute in der Bank aufgesucht, um zu erfahren, wo Marcel ist … Stellen Sie sich das vor! Wie der andere mit seinem Auto …, der doch ein Freund zu sein behauptet. Wissen Sie, was der sich geleistet hat? Er hat mich angerufen, um mir mitzuteilen, daß ich ihm den Reifen zahlen soll und eine Entschädigung für den Ausfall des Wagens … Auf dein Wohl! Wie gefällt dir meine Frau? Sie ist nett, nicht wahr?«
Dabei füllte er sein Glas zum zweitenmal.
7
Der Trödler
M it James geschah etwas Seltsames, etwas, was Mai
gret mit Interesse beobachtete. Je mehr er trank, desto mehr schärfte sich sein Blick. Er wurde scharfsinnig und aufnahmefähig, während Alkohol doch sonst die gegenteilige Wirkung hat.
Das Glas stellte er nur aus der Hand, wenn er es füllen wollte. Seine Stimme wurde weich, seine Sprache zurückhaltend. Er sah niemand an, sprach seine Worte vor sich hin, versank gleichsam ins Nebelhafte.
Die Kartenspieler im Hintergrund tauschten nur sachliche Bemerkungen aus. Die Zinkverkleidung der Theke warf trübe Reflexe.
James sprach mit traurigem Klang in der Stimme vor sich hin:
»Seltsam … ein Mann wie Sie, stark, intelligent … und andere … Gendarmen in Uniform … Richter … ein ganzes Heer … Wie viele mögen aufgeboten sein? … Vielleicht hundert, vielleicht mehr, wenn man die Statisten in den Schreibstuben und an den Telefonen mitzählt. Ein Riesenaufgebot also, das Tag und Nacht auf den Beinen ist, weil eine winzige Kugel Feinstein getroffen hat …«
Maigret wußte nicht, ob James das ironisch oder ernst meinte.
»Prost! Es lohnt schon die Mühe, nicht wahr? Armer Basso! Vor einer Woche war er reich, hatte eine große Firma, Auto und Familie … Und jetzt ist er ein gejagtes Wild.«
James zuckte mit den Achseln. Seine Stimme wurde immer schleppender. Müde und angewidert sah er auf das Glas in seiner Hand.
»Und was steckt dahinter? Eine Frau wie Mado, die Männer konsumiert. Basso geht ihr ins Netz … wer versäumt schon eine solche Gelegenheit, nicht wahr? Sie ist ja schön, hat Temperament … und man sagt sich, das Ganze sei ohne Bedeutung. Man trifft sich, verbringt eine Stunde in einem muffigen Hotel …«
James leerte das Glas und spuckte aus.
»Und am Ende? Ein
Weitere Kostenlose Bücher