Semenon und die kleine Landkneipe
hatte.
Maigret aß eine Kleinigkeit und rief gegen acht Uhr dreißig in seinem Büro an.
»Hat der Inhaftierte mit mir sprechen wollen?«
»Ja. Er hat gesagt, er habe sich die Sache nochmals überlegt. Sein letztes Angebot sind fünfundzwanzigtausend, mehr will er nicht nachlassen. Er hat gesagt, daß auf dem Brot keine Butter war und daß die Temperatur in der Zelle zu niedrig ist. Dabei hat er auf seinen körperlichen Zustand hingewiesen …«
Maigret legte den Hörer auf, machte einen Gang über die Boulevards und ließ sich, als es dunkel geworden war, in die Rue Championnet fahren, wo James wohnte.
Eine Mietskaserne mit kleineren Wohnungen. Die Mieter waren Angestellte, Handelsreisende, Kleinrentner.
»Vierter Stock links«, sagte die Concierge. Es gab keinen Fahrstuhl. Der Kommissar ging langsam die Treppe hinauf, die ihn mit Essensdüften und Kinderlärm umfing.
James’ Frau öffnete. Sie trug einen königsblauen Morgenrock, nicht gerade elegant, aber auch nicht armselig.
»Sie wollen gewiß mit meinem Mann sprechen?«
Der Korridor war nicht größer als ein Tisch. An den Wänden hingen Fotografien von Segelbooten, badenden Gruppen, von jungen Männern und Frauen in Sportkostümen.
»James, hier ist jemand für dich!«
Sie öffnete die Tür, ließ Maigret vorangehen und setzte sich in einen am Fenster stehenden Sessel, wo sie ihre Häkelarbeit wieder aufnahm.
Die anderen Wohnungen im Haus waren vermutlich altmodisch eingerichtet. Etwa im Louis-Philippe-Stil oder im Stil der Jahrhundertwende.
Hier herrschte dagegen eine Atmosphäre, die an Montparnasse erinnerte, wozu eine gewisse persönliche Note kam.
So hatte man mit Hilfe von irgendwelchem billigen Material Zwischenwände mit gemütlichen Nischen errichtet, und die Möbel waren zum Teil durch farbige Regale ersetzt.
Der Teppich war einfarbig, leuchtend grün. Die Lampenschirme bestanden aus imitiertem Pergament.
Das Ganze wirkte heiter und frisch, doch nicht solid. Man hatte das Gefühl, daß man sich nirgends anlehnen könne, daß die Farben nicht trocken waren, daß James sich nicht frei bewegen konnte, daß er wie in einer Spielzeugschachtel eingeschlossen war.
Eine halboffene Tür auf der rechten Seite führte ins Badezimmer, das von der Wanne fast ausgefüllt war. Auf der anderen Seite bildete ein Wandschrank mit einer Ausziehplatte, auf der ein Spirituskocher stand, die Küche.
James saß in einem kleinen Sessel, rauchte eine Zigarette und las in einem Buch.
Maigret hatte irgendwie den Eindruck, daß bis zu seinem Erscheinen eine kühle Atmosphäre zwischen den beiden Eheleuten geherrscht hatte.
Von einer Gemeinschaft war jedenfalls nichts zu spüren.
James erhob sich, reichte ihm die Hand und lächelte verlegen. War es ihm peinlich, daß Maigret ihn hier aufsuchte?
»Wie geht es Ihnen, Maigret?«
Der familiäre Ton, der ihm sonst eigen war, hatte in diesem Puppenheim einen anderen Klang. Einen Mißklang. Denn er paßte nicht zum Milieu mit all den modischen Dingen, Farben und Möbeln …
»Danke, es geht.«
»Nehmen Sie Platz. Ich saß gerade über einem englischen Roman.«
Der Blick aber, den er auf Maigret richtete, sagte:
»Sie müssen entschuldigen … es tut mir leid … ich bin hier wirklich nicht zu Haus.«
Die Frau beobachtete sie, ohne ihre Arbeit wegzulegen.
»Gibt es etwas Trinkbares?« fragte er sie.
»Nein, das weißt du doch.« Und zu dem Besucher gewandt:
»Es ist seine Schuld! Er leert in kürzester Zeit alle Flaschen. Dabei trinkt er doch außerhalb des Hauses schon mehr als genug …«
»Was würden Sie dazu meinen, Kommissar, wenn wir uns unten irgendwo hinsetzten?«
Noch ehe Maigret antworten konnte, schien James eingesehen zu haben, daß es nicht ging. Seine Frau warf ihm Blicke zu, die er nicht mißverstehen konnte.
»Aber wie Sie wollen. Ich dachte nur …«
Dabei schloß er seufzend das Buch und spielte mit einem auf einem niedrigen Tischchen liegenden Briefbeschwerer.
Das Zimmer war kaum vier Meter lang. Und doch hatte man den Eindruck, daß es zwei Räume umschloß, in denen zwei verschiedene, voneinander getrennte Leben gelebt wurden.
Auf der einen Seite die Frau, die dem Heim ihren Geschmack aufprägte, die stickte, häkelte, ihre Kleider nähte und kochte.
Und auf der anderen Seite James, der um zwanzig Uhr erschien, der aß, ohne ein
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