Semmlers Deal
Titelseite. Koslowski las fast den ganzen Artikel, ehe ihn der Schock erfasste. Der Schock kam als Gefühlswelle von einer Intensität, die er nie zuvor erlebt hatte; Koslowski vermied starke Gefühle, wo er konnte; wenn sie ihn doch trafen, kamen sie wie eine Katastrophe über ihn. Er schnappte nach Luft, begann zu hecheln, verschüttete den Kaffee aus der Tasse, die er in der Hand hielt und ließ sie fallen. Die Untertasse ließ er auch noch fallen, den Frühstücksteller warf er schon, das Milchkännchen schleuderte er hinterher, alles zerbrach, wie es sich gehörte, die Splitter verteilten sich über den ganzen Boden. Auf dem Tisch stand nun nichts Zerbrechliches mehr, er warf den Brotkorb gegen den Küchenschrank, von dem er abprallte, ohne ein Zeichen der Zerstörung zu hinterlassen. Da überkam ihn die Wut. Er sprang auf, nahm den Stuhl, schlug damit auf die Glastüren ein, zerdrosch durch die gesplitterten Scheiben hindurch das ganze Hutschenreuthergeschirr bis zur letzten Tasse.
Im Wohnzimmer ließ er sich auf das Ikea-Sofa fallen, das sie vor fünfzehn Jahren gekauft hatten, nein vor achtzehn, sie waren damals noch nicht verheiratet gewesen, das Ikea-Sofa war das Schmuckstück der Studentenwohnung in der Speckbacherstraße in Innsbruck gewesen, wo er mit Ursula gewohnt hatte. Gewohnt hatte. Er begann zu heulen wie ein kleines Kind.
Als ihr Anruf kam, hatte er sich soweit beruhigt, dass er darangehen konnte, die Scherben in der Küche zusammenzukehren. Sie rief vom Hotel Martinspark an, in das sie mit Semmler gezogen war.
Sie werde ihn verlassen, sagte sie zu Koslowski, sofort, ohne Hin und Her. Das war ihr erster Satz. Ihre Stimme klang ruhig und sachlich, erinnerte ihn an die leicht schleppende Redeweise von Frau Mitterer aus der Buchhaltung, wenn sie irgendwelchen Chemikalienbestellungen hinterher telefonierte. Natürlich sagte er: »Bist du verrückt? Warum denn? Das kannst du nicht machen!«, und solche Sachen, aber ohne den emotionalen Nachdruck, den sie sich in dieser Situation erwarten konnte. Sie schien auch pikiert, dass er darauf verzichtete, am Telefon herumzubrüllen, sie hatte wohl einen Ausbruch erwartet und war enttäuscht, redete auch nicht lang, Dr. Breuss werde alles regeln, sagte sie, und dass sie heute noch kommen werde, ihre Sachen abzuholen. »Ich bin nicht da«, sagte er noch. Darauf antwortete sie nichts und legte auf.
Am Ende musste Koslowski in alles einwilligen, was Dr. Breuss vorgeschlagen hatte. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Die ersten Tage nach der Eröffnung, sie werde ihn verlassen, verbrachte er in einem eigentümlichen mentalen Nebel, als ob er ein stark wirkendes Psychopharmakon genommen hätte. Dem ersten Wutanfall folgte kein zweiter, auch sonst keine starke Emotion, die psychische Batterie hatte er beim Ausrasten kurzgeschlossen. Jetzt war sie leer. Dieses Bild verfolgte ihn, die leere Batterie, es gab niemanden, der sie wieder aufladen könnte – darüber dachte er nach, während er stundenlang mit dem Rad durch die Gegend fuhr. Als er nach ihrem Anruf vom ersten ziellosenAusflug dieser Art heimkehrte, fand er die Küche aufgeräumt, das zerschlagene Hutschenreuther entsorgt, das Haus von ihrem Besitz entblößt, alles fort, die Kleider, sogar die Möbel, die sie gekauft hatte. Effektive Besitzteilung innerhalb von zwei Stunden, ohne Fehler, die ihm aufgefallen wären, es gab nichts zu streiten.
Der Toyota war wieder da, auf der Ladefläche eine dünne Schicht Asche, sonst war er unversehrt. Das erleichterte ihn, die Radfahrerei war ihm schon auf die Nerven gegangen.
Offensichtlich wollte sie so schnell wie möglich aus dem Haus. Wohin? In die Brandruine des Liebhabers? So war das nicht bei Semmler; der Gedanke kam ihn bitter an, dass ein gewöhnlicher Zeitgenosse durch die Feuersbrunst, wenn nicht ruiniert, so doch schwer getroffen wäre, aber nicht der Herr Millionär ... das hatte er sich vorher nicht überlegt, dass Leute dieses Schlages solche Unglücksfälle nicht nur überleben, sondern auch Immobilien besitzen und nicht in ein städtisches Notquartier ziehen müssen, wenn man ihnen die Bude abfackelt.
Dass sie nicht mehr im »Martinspark« wohnte, fand er schnell heraus; Dr. Breuss hatte Anweisung, die neue Adresse geheim zu halten. Dr. Breuss war überhaupt sehr kühl bei ihrem Gespräch, das zwei Tage später im Büro des Anwalts stattfand. Dass Ursula die Scheidung wollte, hatte Koslowski erwartet, dass er selber ohne Wenn und Aber einwilligen
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