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Sense

Sense

Titel: Sense Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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ist kleiner als jeder Hopser von der Leiter eines Raumschiffes auf die Oberfläche eines fremden Planeten. Es geht wie von selbst. Wenn man nicht aufpasst. Wenn man nicht wirklich gut auf sich aufpasst.
    >Game-Station< hieß der eine Sentz'sche Laden, den ich in Gelsenkirchen besuchen wollte, >Spielorama< der andere. Ich ließ den Stadtplan die Reihenfolge entscheiden. >Spielorama< kam zuerst dran.
    >Instant Depression< wäre ein passenderer Name gewesen, fand ich. Schwarzgraubrauner Teppichboden überall, auch noch halb die Wände hochgezogen, und darüber das Senfgelb, von dem man sofort mit Sicherheit sagen kann, dass es vor langer, langer Zeit einmal weiß gewesen ist. In den Vierzigern womöglich. Denn auch die zugeklebten Fenster und die funzelige Beleuchtung schienen aus den Kriegstagen der Verdunkelung überdauert zu haben.
    Zusammen hielten sie den Raum in einer Art Zeitfalle. Dem Gefühl nach war es hier für immer drei Uhr, an einem verregneten Montagmorgen im Dezember.
    Vielleicht ein Dutzend Gestalten drückten sich herum, wie man sie nur in solchen Läden antrifft. Oder, fiel mir auf, im Kahn. >Auf Hafturlaub<, >Auf Bewährung<, >Frisch entlassen<, >Flüchtig< sprach aus den Gesichtern, den Haarschnitten, den primitiven Tattoos, den Kettchen, den Ballonseidejoggern und Mucki-Bude-Sweatern, diesem ganzen unentschlossen zwischen Loser und Großkotz hin- und herpendelnden Gehabe. Ein bisschen stehlen, ein bisschen hehlen, ein bisschen dealen, ein bisschen zuhalten, ein bisschen auf die Kacke hauen, doch ansonsten galt es, wie im Knast, nur eins zu tun: Zeit totzuschlagen. Das Kostbarste, was wir haben. Furchtbar.
    Der eine oder andere beäugte mich, schon mal auch ein bisschen herausfordernd, doch damit kann ich umgehen. Jeder kann das. Kuck einfach weg, ist das Rezept. Oder stier zurück, marschier rüber und frag: >Is wat? Willze 'n Foto von mir? Oder 'n paar auffe Fresse?< Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Wegzukucken finde ich, persönlich, irgendwie weniger stressig.
    Ich ging nach hinten durch, wo ein fahler, übergewichtiger Kettenraucher hinter einem teppichbespannten Tresen saß, auf Wunsch Scheine in Hartgeld wechselte und ansonsten unter hängenden Lidern hervor darauf achtete, dass keiner den Geldspielgeräten mit der Brechstange zuleibe rückte oder die Flipper mit nach draußen nahm. Um den schwitzigen Hals trug er ein Schild mit der Aufschrift >Frührentner<. (Ein Scherz. Aber er hätte können. Mit dem Zusatz, knapp darunter: Magenkrank.)
    Ich nickte ihm zu und lehnte mich gegen seinen Tresen, er sah schwach auf und ließ seinen Blick >Frag mich nicht nach 'nem Kaffee, weil, ich hab keinen Bock, meinen fetten Arsch aus dem Sessel zu hieven< sagen.
    »Kaffee?«, fragte ich.
    »Alle«, sagte er.
    »Mein Name ist Kryszinski«, vertraute ich ihm an. »Ich arbeite im Auftrag der Familie Sentz.« Er sah vielleicht einen Tick, einen Deut, eine Nuance wacher auf und ging im Geiste sein Sündenregister durch. Das dauerte einen Moment.
    »Aber ich mach gleich Neuen«, meinte er dann.
    Es gibt einen Haufen Sachen, die ich mich immer frage. Eine davon ist: Verkommt ein Viertel, bevor an allen Ecken und Enden Sexshops und Spielhöllen aufmachen, oder ist es andersrum?
    Die Gegend um das >Spielorama< war auf alle Fälle Gelsenkir-chener Tristesse in Reinkultur. Was für ein seltsamer Job das doch war, den Sascha Sentz da ausübte. Tag für Tag mit dem dicksten Benz rumzujückeln und eine Art von Steuer auf Sozialleistungen und Ergaunertes einzutreiben. Wenn alle seine Läden so aussahen, war es vielleicht doch an der Zeit, sich Sorgen um ihn zu machen.
    Ich studierte noch mal den Stadtplan und machte mich darauf gefasst, rings um die >Game-Station< eine weitere Schattenseite der Stadt kennen zu lernen, dann warf ich den Motor an.
    Eine andere Frage, die mich umtrieb, hatte ich dem Frührentner gestellt. »Wie schafft ihr es eigentlich, bei der Kundschaft hier«, ich deutete mit dem Kinn um mich, »nicht zweimal am Tag ausgeraubt zu werden?« Er schnaubte kurz, ließ den Kopf nach vorne sacken und deutete mit der Nase auf ein Schild vor sich, direkt neben der Wechselgeldschale.
    >Geldbestände zeitschlossgesichert<, las ich.
    »Mehr wie für hundert Mark spuckt die Kiste nich aus«, sagte er. »Dann heißt es wieder drei Minuten warten. Das steht keiner.«
    »Und wie kriegt Herr Sentz das Geld hier heil raus?« Es musste ein komisches Gefühl sein, vom Nacken abwärts, hier mit Tausenden von

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