Sense
vermeiden, durfte ich nicht in U-Haft. Also noch mal von vorn ...
»Ich bin«, brach ich mein Schweigen, »unschuldig wie ein Lamm.«
Mach es nach: Geh am späten Nachmittag in, sagen wir, Mülheim auf die A 40, mit dem festen Vorsatz, sagen wir, Gelsenkirchen erreichen zu wollen. Hab es eilig. Fahr dich so richtig schön fest. In, sagen wir, Essen. Hier verläuft die Bahn in einer Art Schlucht. Aus Beton. Das verleiht dem Ambiente den diesem faszinierenden Baustoff innewohnenden, fidelen Farbton. Hock also da in deiner Karre, in der Schlange, in der Schlucht aus Beton. Lass es - ja, genau -, lass es regnen. Nicht so richtig, ehrlich, pladdernd, nein, lass es nieseln, fisseln. Lass feuchtkalt-fiesen Fisselregen sich vom bleischweren Himmel herabsenken, wie es nur feuchtkalt-fieser Fisselregen kann. Mit all seiner fisselnden, feuchtkalten Fiesness.
Plötzlich, wirst du feststellen, ist alles Scheiße.
Und plötzlich war alles Scheiße.
Es gab kein Vor und kein Zurück, ich stand still in sinnlosem Leerlauf, es pisste nur so auf mich hinunter, und wann, wie und wohin die Reise weitergehen sollte, hing von Faktoren ab, die außerhalb meines Einflusses standen.
Eine Allegorie deines Lebens, Kristof, dachte ich.
Mir war kalt. Fröstelnd, hart an der Grenze zum Zittern kalt. Die fehlenden Fenster sogen die Heizungswärme ohne Umweg nach draußen und ersetzten sie durch schadstoffgesättigte Kaltluft. Der letzte Rest von Ursel Sentz' Cognac hatte meinen Organismus verlassen und überzog mich jetzt als ein Film von glattem, kaltem Schweiß. Sein Abgang hinterließ eine Leere in mir. Sie zu füllen regte sich ein Sehnen. Und eben diese Mischung aus absolutem körperlichem Unbehagen und wissendem Verlangen brachte spontane Erinnerungen zurück. So wie es ein lange nicht wahrgenommener, fast vergessener Duft kann. Oder, besser, ein Geruch. Ein Mief. Die saure Sorte.
Ich könnte jetzt etwas faseln von der dunklen Göttin, unter deren Macht ich so lange gestanden habe, vor Jahren, und über das bisschen Wonne, das sie mir geschenkt hat im Austausch für so einen Sack voll Elend und Erniedrigung. Doch ich bin Detektiv und kein Lyriker, deshalb schenke ich mir alle Schnörkel.
Ich hatte, sämtlichen Warnungen zum Trotz ( >Snief es, Kri-stof, oder rauch es, lutsch es, wenn's sein muss, pack es in ein Zäpfchen, und schiebs dir in den Arsch, aber lass die Finger von -< ) mir eines schönen Tages den Arm abgebunden, die Kanüle eingestochen, abgedrückt und von da ab nicht mehr widerstehen können.
Anfangs war es wie Sport. Anfangs ist die reine Geilheit auf die Droge auch noch stärker als der Druck, den sie später ausüben wird. Anfangs willst du ja, du musst noch nicht.
Erst nachdem du alles, aber auch alles, was du besitzt, verhökert hast und jeden, aber auch wirklich jeden, den du kennst, angepumpt, erst wenn du morgens in einer kalten, kahlen Bude wach wirst, auf dreckigen, mit Brandlöchern übersäten Laken, und du das erste Mal ernsthaft darüber nachdenkst, dich zu prostituieren, weil dieses schwitzige Unbehagen, das dich peinigt, anfängt, in schmerzhafte Krämpfe umzuschlagen, und dieses zarte Sehnen dabei ist, einer nicht mehr zu handhabenden Gier zu weichen, erst dann beginnst du zu realisieren, was du bist: abhängig, süchtig, drauf.
Irgendjemand hupte. Die Wagen vor mir hatten sich weiterbewegt, also zockelte ich hinterher, dann wurde vorne gebremst, und wir hielten alle wieder an.
Der erste schwere Entzug raubt einem gleich haufenweise Illusionen. Vorbei ist plötzlich die Vorstellung, eine Art Rockstar-Dasein führen zu können ohne das entsprechende Einkommen. Verflogen die romantische Idee, Morphinist und damit etwas Besonderes zu sein. Du siehst dich um in deiner siffigen Junkie-Höhle, bis auf den alten, tragbaren SchwarzWeiß-Fernseher, den selbst auf dem Polenmarkt kein Mensch haben wollte, gefegt von allem, was auch nur ein paar Mark einzubringen vermochte, und musst dir eingestehen, dass deinem Lifestyle sowohl Glitz und Glamour als auch jegliche morbide Eleganz schmerzhaft abgehen. Und mit jedem weiteren Entzug schwindet auch das der Idiotie der Jugend vorbehaltene Liebäugeln mit einem kurzen, schnellen Leben. Sucht ist lang, und sie schleppt sich dahin.
So wie der Verkehr auf der A 40. Die Karawane war weitere hundert Meter vorgerückt, und als ich es in meinem Tran endlich mitbekam, hingen sie hinter mir schon wieder auf der Hupe.
Entzug ist das Wort, ja. Der Schritt vom Junkie zum Alki
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