Sensenmann
Mitte des Tellers an. Mia Sandmann hatte die ganze Zeit in ihrem Salat herumgestochert, den gesamten Schafskäse und die Maiskörner auf die Seite geschaufelt und Gurken- und Tomatenscheiben hin- und hergeschoben. Jetzt legte auch sie Messer und Gabel beiseite. Heute trug sie eine kurzärmelige fliederfarbene Bluse, und man konnte ihre dünnen, aber sehr muskulösen Arme sehen. Lara betrachtete die knochigen Handgelenke der Frau. Die Haut war braungebrannt. Vielleicht fielen deshalb die feinen weißen Linien an beiden Unterarmen umso mehr auf. Eine Vielzahl dünner Striche, die quer zum Gelenk über die gesamte Innenseite reichten. Links waren es mehr. Lara hatte so etwas schon einmal gesehen. Bei einer Reportage über Menschen, die sich selbst verstümmelten. Das Aufschneiden oder Aufkratzen der Haut mit Rasierklingen, Messern, Scheren oder Glasscherben wurde »Ritzen« genannt. Es gehörte zum autoaggressiven Verhalten und hatte viele Ursachen, die aber fast immer mit zurückliegenden Traumatisierungen, Zurücksetzungen, Demütigungen oder Missbrauch zu tun hatten. Als spürte sie die auf ihre Narben gerichtete Aufmerksamkeit, ließ Mia Sandmann beide Arme unter dem Tisch verschwinden.
»Ich bin gespannt, ob die heute pünktlich fertig werden.« Frank Schweizer blickte zu seiner Begleiterin. Lara fand, dass er dabei ein Gesicht machte wie ein verliebter Ochsenfrosch.
»Ich kann leider nicht bis zum Schluss dableiben, ich habe noch einen Termin außerhalb.« Mia Sandmanns Arm bewegte sich unter dem Tisch nach links.
»Wann musst du denn weg?«
»Spätestens um drei. Ich komme nach der Pause nicht wieder mit in den Gerichtssaal. Eigentlich war ich heute nur wegen dir hier.« Frank Schweizers Gesichtsausdruck wandelte sich zu dem eines verzückten Schlafwandlers. Lara fragte sich, wieso die Frau einfach freinehmen konnte, um an dem Prozess teilzunehmen. Sie hatte stillschweigend angenommen, Maria Sandmann sei in ihrer Funktion als Mitarbeiterin des Jugendamtes hier, schließlich waren zwei der Angeklagten noch minderjährig. Ihr Blick folgte der Bewegung des linken Armes, der noch ein Stückchen weiter in Richtung von Frank Schweizer gewandert war. Was machte die Frau da?
Lara beugte sich ein wenig zur Seite und tat so, als suche sie etwas in ihrer Tasche, die auf dem Boden stand, während sie versuchte, unter die Tischplatte zu schielen. Die Hand der blonden Frau lag auf dem Oberschenkel des Kollegen, verdächtig nah an seinem Schritt. Jetzt bewegte sie sich zur Mitte und rieb sacht auf und ab. Lara tauchte mit hochrotem Kopf wieder auf, ihr Mobiltelefon in der Rechten, und deutete auf das Handy. »Ich muss schnell noch ein Gespräch führen. Hältst du mir einen Platz frei?« Frank Schweizer nickte entrückt, und Lara schnappte sich ihre Tasche und eilte hinaus. Den Teller und das Glas ließ sie stehen. Das traute man dieser sanften Frau gar nicht zu, wenn man sie so sah. Aber sollten der Kollege und seine neue Freundin machen, was sie wollten. Lara war nicht ihre Anstandsdame.
»Ist der Chef noch da?« Lara warf ihre Tasche in hohem Bogen auf den Schreibtisch. Isabell, die schon den Schirm am Arm hängen hatte, stand neben dem Platz ihres Angebeteten. Tom hatte die Hände von den Tasten genommen und schaute verblüfft.
»Er sitzt in seinem Büro. Was willst du denn von ihm? Es ist gleich Feierabend.«
»Ich habe etwas mit ihm zu besprechen.« Die Verhandlung war eher zu Ende gewesen, als sie gedacht hatten, weil zwei der geladenen Zeugen nicht erschienen waren. Auf der Rückfahrt vom Gericht hatte Lara die ganze Zeit darüber gegrübelt, was passiert wäre, wenn Frank ihr nicht haarklein alle Details vom Vormittag berichtet hätte. Und mit jeder Ampelkreuzung war ihr Zorn ein bisschen gewachsen. Tom machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, als Gernot Hampenmann in der Tür zu seinem Zimmer erschien. »Ich gehe jetzt.« Der Redaktionsleiter drehte sich um, verschloss seine Tür und wandte sich in Richtung Ausgang.
»Halt, warten Sie!« Laras Ausruf klang wie ein Schrei. Hampenmann und Isabell zuckten gleichzeitig zusammen.
»Ich möchte etwas klären!«
»Frau Birkenfeld. Was ist denn nun schon wieder?« Es klang genervt. »Ich muss los.«
»Ich war heute im Gericht. Ein Prozess gegen vier Hooligans.«
»Ja und?« Hampenmann machte einen Schritt auf die Tür zu, und Lara sprudelte schnell die nächsten Sätze heraus.
»Zum Verhandlungsauftakt letzten Dienstag ist Tom gegangen, weil Sie ihn
Weitere Kostenlose Bücher