Sensenmann
freihalten?«
»Gern.« Frank Schweizer klang abwesend. Sein Blick war auf die hübsche Blonde vom Jugendamt gefallen, die gerade die Stufen heraufeilte. Lara sah aus den Augenwinkeln, wie er sich erhob und der Frau ein Zeichen machte, dann wandte sie sich ab und ging zu den wartenden Leuten.
»Bitte erheben Sie sich.« Eine Seitentür öffnete sich, und die Richter kamen herein. Danach wurde der Arzt von zwei Polizeibeamten in den Sitzungssaal geführt. Er war mit Handschellen gefesselt. Lara fragte sich, ob er diese auch zum Essen tragen musste, und was sie damit machten, wenn er zur Toilette ging, verscheuchte den Gedanken aber sofort. Der Angeklagte wurde zu seiner Bank an der linken Seite des Saales geführt. Sein Verteidiger marschierte hinterher und zerrte dabei an seinem Schlipsknoten, als sei dieser zu eng gebunden.
Das Scharren und Raunen erstarb. Aus den Augenwinkeln sah Lara, wie Frank Schweizer einen Stift zückte und sein Notizbuch vorsichtig auf der Lehne des Vordersitzes abstützte. Neben ihm saß die blonde Frau vom Jugendamt. Auch Lara griff nach ihrem Schreibblock. Sie hatte mehrmals versucht, Verhandlungen mit dem Diktiergerät aufzunehmen, aber der Hall in den riesigen Räumen und die Nebengeräusche der Anwesenden ergaben ein stetes Rauschen, das es unmöglich machte, die Aufzeichnung zu verstehen. So war sie wieder zur altmodischen Methode des Mitschreibens zurückgekehrt. Das hatte auch den Vorteil, dass sie beim Protokollieren gleich über den Artikel nachdenken und sich ein paar Gedanken dazu notieren konnte.
Während der vorsitzende Richter Präliminarien abspulte, betrachtete Lara den angeklagten Arzt. Die Tagespresse würde kein Foto von ihm abdrucken, aber es machte den Text lebendiger, wenn sie den Täter ein wenig charakterisierte. Das helle Neonlicht in dem dunkel getäfelten Saal betonte die zahlreichen Hautunregelmäßigkeiten des Mannes. Sein Haar war schütter, der graue Bart sauber gestutzt. Im Profil wirkte seine Nase kantiger als von vorn. Er trug eine Brille mit schmalem Metallgestell, die ihn wohl seriös aussehen lassen sollte. Sein leidender Gesichtsausdruck machte diesen Eindruck jedoch zunichte. Doktor Schwärzlich hatte die Hände auf der Holzplatte vor sich übereinandergelegt, möglicherweise, um ihr Zittern zu unterdrücken.
Er trug einen Ehering, und Lara fragte sich, welche Frau mit so einem Mann verheiratet sein wollte. Aber vielleicht war er längst geschieden und trug den Ring demonstrativ, um allen zu zeigen, dass er im Grunde ein ehrbarer Mann war. Die beiden obersten Knöpfe seines schwarz-rot gestreiften Oberhemdes waren offen, sodass man die faltige Haut des Halses sehen konnte. Lara wandte angewidert den Blick ab. Ihre Augen begegneten denen der blonden Frau vom Jugendamt, und sie überlegte eine Sekunde, bis ihr der Name einfiel. Frau Sandmann zog kurz die Mundwinkel nach oben. Ihre Augen lächelten nicht. Die Finger hatte sie im Schoß verknotet, die Schultern hochgezogen.
Der Richter beendete seine Einleitung, und wie auf Kommando strafften sich die Körper und das Hintergrundgetuschel verstummte. Die Journalisten hielten ihre Stifte bereit und neigten die Köpfe über ihre Notizblöcke.
»… Nach Überzeugung des Gerichtes handelt es sich bei den Fällen ausnahmslos um unsittliche Berührungen …«
Lara schluckte. Das war nicht gut. Die Staatsanwaltschaft war in der Anklage von mindestens zwei schweren Missbrauchsfällen ausgegangen. »Unsittliche Berührung« war längst nicht so schwerwiegend wie »Missbrauch«. Das Strafmaß für den Arzt würde sich wahrscheinlich im unteren Bereich bewegen. Der Verteidiger hatte sogar nur eine Strafe auf Bewährung gefordert. Rechts von ihr schüttelte Frau Sandmann heftig den Kopf, und bevor sie wieder nach vorn sah, bemerkte Lara, wie Frank Schweizer der Frau beschwichtigend die Hand auf den Arm legte.
»… wird somit wegen Kindesmissbrauchs in dreizehn Fällen, außerdem wegen Erwerbs und Besitzes kinderpornografischer Schriften zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt.« Der vorsitzende Richter machte eine kurze Pause. Lara blickte auf und sah den Angeklagten zusammenzucken, während sein Verteidiger mit versteinerter Miene geradeaus starrte.
»… Das Gericht legt außerdem ein Berufsverbot fest. Der Angeklagte darf nach seiner Haftentlassung für drei Jahre nicht als Mediziner arbeiten. Jegliche Tätigkeit, die eine ärztliche Behandlung von Patienten einschließt, ist ihm
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