Sensenmann
Quälereien, wobei sie stets darauf achtete, keine Spuren zu hinterlassen.
Ziehen an den Haaren und Herausreißen einzelner Strähnen war noch das Harmloseste. Am liebsten hat sie die Mädchen in die Nase gekniffen. Nicht außen – das hätte ja blaue Flecken hinterlassen –, nein, innen, links und rechts der Nasenscheidewand, drückte sie mit Daumen und Zeigefinger zu und bohrte ihre spitz gefeilten Fingernägel in das empfindliche Gewebe, bis es blutete. Es muss höllisch wehgetan haben! Ich glaube, dass das noch nicht das Schlimmste war, was sie getan hat, aber Glauben und Wissen sind zweierlei Dinge. Konrads Schwester hat mit Sicherheit nicht alles erzählt, und außerdem hatten die Mädchen solche Angst vor dieser Frau, dass sie es nicht wagten, über die Geschehnisse in dem Büro zu sprechen.
Matthias sah das breitflächige Gesicht der Heimleiterin vor sich, während er an seinem Daumennagel nagte. Die Frau hatte also kleine Mädchen gequält. Er dachte an Mandy und überlegte, ob auch seine Schwester ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Darüber gesprochen hatte sie nie, aber das, was Sebastian Wallau schrieb, traf zu. Die Kinder schämten sich der Dinge wegen, die ihnen widerfahren waren. Wenn sie sich doch jemandem öffneten, machten sie fast immer die schmerzliche Erfahrung, dass niemand ihren Schilderungen Glauben schenkte.
Jetzt tat es ihm fast ein bisschen leid, dass er sich entschlossen hatte, die Sagorski zu verschonen. Nur weil sie den Jungen nichts angetan hatte, war sie nicht gleich unschuldig. Wer weiß, was die armen kleinen Mädchen in ihrem Büro hatten durchmachen müssen. Dazu kam, dass die Frau als Leiterin des Kinderheims ihre Angestellten nicht kontrolliert hatte, sodass diese schalten und walten konnten, wie sie wollten. Oder noch schlimmer,
wenn sie von deren Schandtaten gewusst, diese aber stillschweigend geduldet hatte, damit ihre eigenen Obszönitäten nicht ans Licht kamen. Oder sie womöglich sogar gutgeheißen hatte! So oder so, es war egal. Auch Frau Sagorski hatte gehörig Schuld auf sich geladen.
Matthias gewann zunehmend den Eindruck, dass alle Erzieher in diesem Heim Dreck am Stecken gehabt hatten. Forschte man tiefer, fand man bei jedem eine andere Obsession. Wie hatten sich so viele Perverse in einem einzigen Kinderheim versammeln können? Aber vielleicht war es ähnlich wie in Haut de la Garenne auf Jersey. Solche Orte zogen Kinderquäler magisch an. Manch einer von ihnen mochte es vorher woanders versucht haben, war aber an strengeren Kontrollen oder einem aufmerksameren Umfeld gescheitert. Irgendwann fanden die Peiniger dann den Ort, an dem sie ihre Perversionen ungehemmt ausleben konnten, weil es keine Überwachung gab oder die Kontrollinstanzen selbst an den Schandtaten beteiligt waren. So etwas kam immer wieder vor.
Schnell überflog Matthias die letzten Zeilen. Sebastian Wallau schrieb, er würde in dieser Woche seine Seiten überarbeiten und ein Gästebuch einrichten und dass er sich auf Matthias’ Antwort freue. Er hatte nicht gefragt, wozu sein Mailpartner all die Informationen brauchte. Stattdessen schien er stillschweigend vorauszusetzen, dass der neue Brieffreund, genau wie Sebastian selbst, ein Interesse daran hatte, die Geschehnisse im Heim nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Matthias wollte ihn in diesem Glauben lassen.
Ein Gästebuch. Das war keine schlechte Idee. Trugen sich weitere Insassen des Kinderheims dort ein, konnte er Kontakt zu ihnen aufnehmen. Vielleicht waren sogar Bekannte darunter, Menschen, die zur gleichen Zeit wie Matthias dort gewesen waren und sich an ähnliche Dinge erinnerten.
Er strich sich mit den Fingerspitzen über die Stirn und lächelte
abwesend. So einfach eröffneten sich neue Möglichkeiten zur Recherche. Manchmal musste man sich ein bisschen in Geduld üben. Seit der Bestrafung von Isolde Semper waren schon anderthalb Wochen vergangen, und in Matthias’ Kopf verlangte etwas zunehmend dringlicher danach, mit der »Arbeit« weiterzumachen. Er würde nicht ewig Zeit haben, irgendwann kamen die Bullen jedem auf die Spur. Bevor die ihn erwischten, wollte er noch so viele Peiniger wie möglich drankriegen. Matthias lächelte breiter und schaltete den Computer aus.
Zunächst würde er die Sagorski noch einmal besuchen. Nach den neuesten Informationen war es an der Zeit, ihr ein paar detaillierte Fragen zu stellen. Er betrachtete die geschnitzte Schatulle mit den wenigen Erinnerungsstücken neben dem Monitor.
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