Sensenmann
und betrachtete seine Stichpunkte. Dem Vollmond fehlte zwar rechts inzwischen ein schmales Stückchen, aber das silbrige Licht reichte aus, um die Zeilen zu erkennen.
»Bereit? Dann hören Sie gut zu, und geben Sie sich Mühe mit den Antworten. Erstens: Wie hießen die Erzieher, die außer Ihnen in dem Heim gearbeitet haben?«
Die Sagorski überlegte kurz, dann sprudelte sie die Namen so schnell hervor, dass er Mühe hatte, mit dem Schreiben nachzukommen. Anscheinend hatte sie jetzt beschlossen, kooperativ zu sein. Der Kugelschreiber fuhr über das Blatt; in Matthias’ Kopf wirbelte das Gedankenkarussell Gesichter und Namen durcheinander: Meller, Semper, Gurich. Dazu ein paar, die er noch nie gehört hatte.
Es dauerte mindestens eine Minute, bis er aus seiner Versenkung erwachte und feststellte, dass die Sagorski längst schwieg. Sie starrte ihn mit einem halb erwartungsvollen, halb ängstlichen Gesichtsausdruck an. »Gut. Es geht doch. Machen wir weiter.« Matthias blinzelte auf seine Notizen. »Wer war denn vor Ihnen Heimleiter?«
»Herr Grünkern.«
»Vorname?«
»Rainer, glaube ich.«
»Sie haben ihn nicht persönlich kennengelernt?«
»Nein.« Log sie?
»Ging Herr Grünkern in Rente oder warum haben Sie ihn abgelöst?« In Matthias’ Bauch flatterte es ganz sacht.
»Rentner war der noch nicht.« Die Sagorski kniff die Augen zusammen, während sie nachdachte. »Er wurde versetzt oder ist umgezogen. Ich weiß es nicht genau.«
»Rainer Grünkern also. Wie sah er aus?« Matthias hielt den Kugelschreiber über dem Papier. Der Stift zitterte leicht.
»Das müssten Sie doch wissen. Wenn Sie und Ihre Schwester schon vor 1984 im Heim waren, wie Sie sagen.«
Die Frau hatte recht. Das Flattern wurde stärker. Gleichzeitig wirbelten weiße Nebelfetzen in seinem Kopf herum. Warum konnte er sich nicht an den Heimleiter erinnern? Und wo war dieser Mann jetzt? Der Nebel verdichtete sich zu silbergrauen Schwaden. Plötzlich riss der Wolkenvorhang in der Mitte auseinander und ein hämisch dreinblickendes Männergesicht grinste
kurz daraus hervor, bevor eilige Dunstwölkchen von den Seiten heranzogen und das Loch wieder verschlossen.
Matthias löste seinen Blick von den dunklen Umrissen der Baumwipfel und zwang ihn zurück auf die Notizen. Sinnlos, die Sagorski weiter nach ihrem Vorgänger zu fragen. Er glaubte ihr, dass sie in dem Fall nichts wusste.
»Drittens: Haben Sie noch Kontakt zu ehemaligen Kollegen?«
»Nein.« Die Sagorski schob das Kinn vor. Im Zwielicht konnte er nicht erkennen, ob sie die Wahrheit sagte. Matthias machte ein Kreuzchen hinter die Frage. Er würde sie nachher noch einmal stellen.
»Wissen Sie wenigstens, wo Ihre Kollegen von damals jetzt wohnen?«
»Nein. Das Kinderheim wurde kurz nach der Wende aufgelöst.«
»Das ist mir bekannt, aber es ist nicht die Antwort auf meine Frage. Sie sollten sich doch ein bisschen Mühe geben, Frau Sagorski. Noch einmal also: Sie haben also keine Ahnung, wo ich die ehemaligen Erzieher finden kann?«
»Nein.« Sie setzte eilends noch ein »Tut mir leid« hinzu, wahrscheinlich in der Hoffnung, ihn damit zu beruhigen, fragte aber nicht, warum er all das wissen wollte. Vielleicht nahm sie an, er wolle auch ihre ehemaligen Kollegen nach seiner verschwundenen Schwester befragen. Und dieses Missverständnis wollte er so lange wie möglich aufrechterhalten, damit sie kooperierte. Denn sobald ihr schwante, wie der Abend tatsächlich enden sollte, würde er nichts von Bedeutung mehr aus ihr herausbekommen. Wieder zog die Frau auf der Sackkarre die Nase hoch, und er hätte sie am liebsten angeherrscht, gefälligst ein Taschentuch zu benutzen, hielt sich aber zurück.
»Wenn Sie ehemalige Heimkinder wie Ihre Schwester suchen – vielleicht steht etwas darüber in den Akten. Von jedem Kind wurde eine Akte angelegt.«
Matthias nickte versunken. Auch sein neuer Brieffreund, Sebastian Wallau, hatte etwas von Akten geschrieben. Es war eine Möglichkeit, wenn auch eine vage, mit der er sich bis jetzt nicht näher befasst hatte. Vielleicht jedoch konnten diese Akten bei seinen zukünftigen Plänen noch von Bedeutung sein. Es war immer besser, sich auf Fakten, auf Aufzeichnungen berufen zu können als auf das eigene Gedächtnis, das zudem, wie er in den letzten Wochen leider hatte feststellen müssen, nicht unfehlbar war.
»Erzählen Sie mir mehr davon.«
»Von den Akten?« Die Sagorski klang hoffnungsvoll. Matthias nickte, setzte sich auf den Stamm des
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