Sensenmann
Gummimaske.
Jetzt bringen britische Medien ihn mit den Knochenfunden in dem ehemaligen Kinderheim in Verbindung. Bereits 1972 hatte Paisnels Ehefrau von Besuchen ihres Gatten in dem Waisenhaus berichtet. Er habe sich dabei oft als Weihnachtsmann verkleidet, mit den Kindern gespielt und sie gebeten, ihn »Onkel Ted« zu nennen, schrieb sie in einer Biografie über ihn.
Die örtliche Polizei weist jede Spekulation über einen Zusammenhang zurück. Es gebe »keine Beweise« für eine Verbindung Paisnels mit den Knochenfunden. Doch inzwischen sind Fotos aufgetaucht, die den pädophilen Kinderschänder im roten Pelzmantel mit angeklebtem Bart im Haut de la Garenne zeigen – mit Kindern auf dem Schoß.
Paisnel wurde 1971 wegen Körperverletzung, Vergewaltigung und Unzucht zu 30 Jahren Haft verurteilt. Er starb 1994.
Matthias sah das Bild vor sich, obwohl es nicht auf dem Monitor abgebildet war. Sein Körper fühlte verstohlene Berührungen, die
Haut erschauerte unter tastenden Fingern, an seinem Hintern spürte er den unnachgiebigen Druck von etwas Festem. Er selbst saß auf dem Schoß dieses Mannes im Weihnachtsmannkostüm und konnte sich nicht wehren, während der Perverse ihm mit heiserer Stimme abstoßende Dinge ins Ohr flüsterte. Er nahm einen Schluck Cola, schmeckte nichts, zwang seine Augen, sich zu öffnen, weiterzulesen, das Unfassbare aufzunehmen und in seinen Kopf zu schicken, wo all die verschlossenen Erinnerungen darauf warteten, dass er den Schlüssel fand und sie herausließ.
Mehr als fünfzig ehemalige Heimkinder aus Haut de la Garenne hatten sich inzwischen bei der Polizei gemeldet. Mehr als fünfzig Zeugen der schrecklichen Ereignisse, die nach ihren Angaben in dem früheren Kinderheim vergewaltigt oder misshandelt worden waren. In Matthias’ Brustkorb rasselte es bei jedem Atemzug. »Mehr als fünfzig« – und das war sicher nur die Spitze des Eisbergs.
Wo sind eigentlich deine Leidensgenossen? Es kann doch nicht sein, dass du der Einzige bist, der sich an Quälereien und Misshandlungen in deinem Kinderheim erinnert! Matthias schluckte trocken. Er war nicht allein. Sein Körper erinnerte sich an alles, was ihm zugestoßen war, auch wenn er nicht bewusst auf alles zurückgreifen konnte. Hatten sich denn die ehemaligen Kinder aus Haut de la Garenne vor den schrecklichen Entdeckungen der letzten Wochen gemeldet? War irgendeiner der fünfzig bei der Polizei gewesen und hatte Anzeige erstattet? Oder hatte jeder von ihnen für sich isoliert mit der Vergangenheit gekämpft, gelitten und sich alleingelassen gefühlt? Die schlimmere Variante jedoch war, dass sich einige tatsächlich an die Behörden gewandt hatten, man ihnen aber nicht geglaubt hatte. Das kam öfter vor, als der brave Bürger annahm, auch in Deutschland.
Matthias spürte, wie die Kopfschmerzen zurückkamen. Es begann immer auf die gleiche Art und Weise: Zuerst pulste es kaum wahrnehmbar, dann verdichtete das Pochen sich zu einem
Hämmern, schließlich schien sich der ganze Kopf auszudehnen und wieder zusammenzuziehen, bis er das Gefühl hatte, er würde platzen wie ein überdehnter Ballon. Wenn er seine Medikamente nicht spätestens beim Pochen einnahm, war der Prozess nicht mehr aufzuhalten. Matthias verwarf die ärztliche Anordnung, nahm zwei Triptan auf einmal und würgte sie trocken hinunter. Die ganzen Berichte über Haut de la Garenne hatten nur eines gebracht: dass es ihm schlechter ging als vorher. Neue Erinnerungen, Gesichter hinter den Namen auf der Liste, hatten die grausigen Schilderungen nicht zutage gefördert. Die Schnitzereien auf der Schatulle mit den Briefen glänzten im Licht der Schreibtischlampe rötlich braun. Ein pelziger Falter war, angelockt vom Licht, unbemerkt hereingekommen und gaukelte nun um den Lampenschirm. Die Migränetabletten wärmten Matthias’ Bauch.
Es gab nur eine Möglichkeit weiterzukommen. Er musste weitere Heimkinder befragen. Vielleicht konnten sie seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Hatte Sebastian Wallau nicht geschrieben, dass mehrere Ehemalige mit ihm Kontakt aufgenommen hatten? Der Brieffreund hätte sicher nichts dagegen, ihm die E-Mail-Adressen zu geben, damit er sich mit ihnen in Verbindung setzen konnte – der alten Zeiten wegen.
In der Zwischenzeit wollte Matthias Hase sich um den Mann kümmern, dessen Name etwas, wenn auch nur Verschwommenes, in ihm geweckt hatte: Rainer Grünkern.
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Lara betrachtete im Vorüberfahren das dreieckige Verkehrsschild mit der
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