Sensenmann
Ohne ihn zu beachten, warf Lara ihre Handtasche auf den Stuhl und stampfte zum Zimmer des Redaktionsleiters. Toms Platz war leer. Und das war gut so. Wer weiß, ob sie sich beim Anblick seiner dummdreisten Miene hätte beherrschen können. Sie hieb ihre Fingerknöchel gegen die Tür und drückte, ohne ein »Herein« abzuwarten, die Klinke nieder.
»Was ist denn jetzt…« Hampenmann saß hinter seinem Schreibtisch und musterte seine Angestellte mit hochgezogenen Augenbrauen. Auf seiner Stirn hatten sich mehrere vertikale Falten eingekerbt. »Frau Birkenfeld! Ich kann mich nicht erinnern, Sie hereingebeten zu haben!«
»Ich muss etwas klären. Sofort.« Lara warf die Tür hinter sich ins Schloss und blieb kurz stehen, um sich zu sammeln. Von hier aus konnte sie das Bänkchen sehen, auf das der Redaktionsleiter seine Füße stellte, weil seine Beine so kurz waren, dass sie von dem mächtigen Chefsessel aus nicht bis zum Boden reichten. Hampenmann bemerkte ihren Blick und wusste, was sie gesehen hatte. Seine Stirnfalten vertieften sich. »Jetzt nicht, Frau Birkenfeld. Ich habe zu arbeiten. Kommen Sie in einer halben Stunde wieder.«
»Nein! Wir besprechen das jetzt gleich!« Gernot Hampenmann,
der den Blick in Erwartung, dass Lara seinen Anweisungen Folge leisten würde, wieder auf seinen Schreibtisch gesenkt hatte, sah hoch. Sein Mund stand ein wenig offen, die Augen waren weit geöffnet. »Wie bitte?«
»Es ist wichtig!«
»Drei Minuten.« Der Redaktionsleiter hob die Hand, Daumen, Zeige- und Mittelfinger ausgestreckt, eine symbolische Drei andeutend.
»Tom Fränkel sabotiert meine Arbeit!«
»Was?«
»Er reißt Berichte an sich, die in mein Ressort fallen.« Hampenmann öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Lara hatte schon weitergesprochen. »Er verschweigt mir Termine, die für mich bestimmt sind, und geht stattdessen selbst hin.«
»Haben Sie Beweise für Ihre Anschuldigungen?«
»Am Montagnachmittag kam ein neuer Gerichtstermin für Dienstag herein. Ich war unterwegs. Normalerweise werde ich in so einem Fall angerufen, wenn es eilig ist, oder man legt mir eine Notiz auf den Schreibtisch. Weder das eine noch das andere ist passiert, und ich war am Montagabend noch einmal hier, da hätte ich den Zettel doch finden müssen, nicht?«
»Und wie kommen Sie darauf, dass es gerade Tom war?«
»Weil er am Dienstag im Gericht war!« Lara hörte ihre Stimme wie durch Watte. Sie klang kurzatmig und deutlich höher als sonst.
»Das muss doch noch lange nicht heißen, dass er Ihnen den Termin böswillig verschwiegen hat, wie Sie unterstellen. Was, wenn ich ihn hingeschickt habe, weil Sie nicht erreichbar waren?« Der Redaktionsleiter verzog verächtlich das Gesicht. Lara fühlte, wie ihr Mund sich erstaunt öffnete. Wahrscheinlich trug sie gerade den Gesichtsausdruck eines hypnotisierten Kaninchens zur Schau.
»So, Frau Birkenfeld.« Hampenmanns Rechte machte eine
Wegwerfbewegung in Richtung der Tür. »Ich schlage vor, Sie gehen jetzt nach draußen und überlegen sich in aller Ruhe, was Sie da eben getan haben. Aufgrund obskurer Verdächtigungen und falscher Annahmen schwärzen Sie einen kompetenten Kollegen bei mir an. Halten Sie das für ein seriöses Verhalten? Denken Sie gründlich darüber nach. Ich werde Tom vorerst nichts davon sagen.« Die Hand wedelte noch einmal, und Lara schloss ihren Mund mit einem Schnappen. Wie in Trance ging sie hinaus, die Augen auf einen entfernten Punkt gerichtet. Nahm Hampenmann Tom nur in Schutz, oder hatte er ihn tatsächlich selbst zu der Prozesseröffnung beordert? Lara setzte sich an ihren Schreibtisch, faltete die Hände im Schoß und stierte, ohne zu blinzeln, geradeaus.
28
»Tschüss! Ich bin dann weg. Schönes Wochenende!« Maria Sandmann winkte ihrer Kollegin zu. Diese nickte, den Blick auf die Akten gerichtet, und murmelte ein »Bis Montag«, das Mia nicht mehr hörte, weil sie schon halb auf dem Flur war. Es war erst Mittag, aber an den Freitagen hatte das Amt ohnehin nur bis zwölf geöffnet, sodass nicht mehr mit unangemeldeten Besuchern zu rechnen war. Jeder von ihnen kam dadurch ab und zu in den Genuss, Überstunden abzubauen. Heute war sie dran. Mia hatte kein schlechtes Gewissen. Sie arbeitete fast jede Woche länger, als es ihre Dienstzeiten vorsahen, und ihr Überstundenkonto wuchs und wuchs. Bezahlt wurde die Mehrarbeitszeit nicht, und wenn man sie nicht rechtzeitig abbummelte, verfielen die Stunden.
Mia hatte als Grund für ihr zeitiges
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