Sentry - Die Jack Schilt Saga: Die Abenteuer des Jack Schilt (German Edition)
Ohren, holte ich die alte Landkarte hervor und breitete sie vorsichtig aus. Von seiner Quelle, dem Taorsee aus, folgte mein Finger dem Lauf des Königs der Flüsse in nordöstliche Richtung durch Fennosarmatia hindurch. Der Taor bildete demnach die Grenzlinie zwischen den weiten fruchtbaren Gebieten im Norden und der Großen Taorwüste im Süden. Auf einer Länge von geschätzten zweihundert Meilen flankierte er die Große Caldera, jenen gewaltigen Grabenbruch inmitten Yalgas. Im weiteren Verlauf hatte er sich im Laufe von Jahrmillionen in eine tiefe Schlucht gegraben, die sogenannte Rima. Am Zufluss des Vatagara, bei den himmelwärts reichenden Vatagarafällen, befand sich ein tiefer, namenloser See, dessen Gestade wir nach Avaleas Worten jedoch nicht einmal berühren würden. Unser Weg führte am Westrand der Rima in luftiger Höhe entlang. Viele Meilen stromabwärts später, wenn sich der Sokwa (von den Menschen einst auch Styx genannt) aus den Tiefen Lygarias kommend mit dem Taor vereinigt, bildet er eine weit ausgedehnte Sumpflandschaft, nennenswerte Nebenflüsse sollte er allerdings bis zu seiner noch Ewigkeiten entfernten Mündung nicht mehr aufnehmen.
„Seht, hier, hier und hier.“ Avalea markierte drei markante Abschnitte des Taor River mit je einem Finger. „An diesen Stellen ist der Taor am reißendsten, dort befinden sich die Katarakte.“
„Katarakte?“ Diese Bezeichnung sagte mir nichts.
„Ja, Barrieren aus sehr harten Gesteinsschichten, an denen sich das Flussbett schmaler und bedeutend tiefer eingegraben hat. Das Wasser fließt dort unüberwindbar schnell. Vor allem wenn in Guelphia und Lygaria Regenzeit herrscht. Dann schwellen die Wassermassen drastisch an.“
„Wann ist dort Regenzeit, Avalea?“ fragte Luke.
„Erst gegen Ende des Sommers, es werden also noch einige Wochen ins Land gehen, bevor es hier richtig ungemütlich wird“, beruhigte sie uns. „Hier befindet sich der erste Katarakt, kurz vor der Einmündung des Vatagara, der zweite liegt hier ein paar Meilen nach den Taorfällen inmitten des Uhleb-Gebirges. Der Taor folgt dem Lauf des Gebirges auf Schritt und Tritt und beschreibt dabei eine perfekte Kreisbewegung, bevor er sich abrupt nach Osten wendet, sehr ihr?“
Wir sahen es. Ich kannte die Karte auswendig, so oft hatte ich sie schon studiert.
„An dieser Stelle ist der dritte Katarakt“, schloss Avalea. „Danach verbreitert sich der Fluss stetig, bevor er schließlich in die See mündet. Tja, da befinden wir uns jetzt mehr oder weniger. Und da“, sie fuhr mit dem Finger den ganzen Verlauf des Flusses stromaufwärts ab, „liegt unser Ziel: der Taorsee.“
Ich nickte vielsagend.
„Noch ein verdammt weiter Weg.“ Anhand welcher Anhaltspunkte wir, gesetzt den Fall wir kamen lebend dort an, Rob finden sollten, wagte ich nicht einmal zu denken.
„Du sagst es“, bestätigte Avalea. „Und ein beschwerlicher dazu. Ich muss nicht extra betonen, dass es hier weit und breit keine Wege und Straßen gibt, ja noch nie gab. Uhleb bedeutet Wildnis, so weit das Auge reicht.“
„Und wir mittendrin.“ In Lukes Bemerkung schwang ein Unterton mit, dessen ungeschminkte Begeisterung mich irritierte. Er schien der einzige zu sein, der an den vergangenen entbehrungsreichen Wochen zu wachsen, ja aufzublühen begonnen hatte. Vergessen war offenbar der haarsträubende Zwischenfall auf See, der ihn beinahe das Leben gekostet hatte. In dieser Hinsicht erwies sich Luke Eastley zäher als erwartet. Waren wir uns in vielen kleinen Dingen auch ähnlich, funktionierten wir doch grundlegend anders.
„Vermisst du nicht manchmal auch dein Zuhause?“ fragte ich ihn unvermittelt.
Er sah mich verständnislos an, zögerte aber einen Moment, bevor er wie ausweichend antwortete: „Dann und wann schon.“ Wieder eine jener Aussagen, die unsere Unterschiede schonungslos offenlegten. Mit jedem Tag, den wir uns weiter von Avenor entfernten, verlangte es mir mehr und mehr nach meiner vertrauten Heimat, nach Stoney Creek, und ich wusste, Krister ging es ähnlich, auch wenn er niemals darüber sprach.
Der vierte Tag neigte sich dem Ende entgegen, als wir einen versandeten Nebenfluss des Taor erreichten. Das breite, tief ausgewaschene Bett verriet deutlich, dass dies nicht immer der Fall war. Im Gegenteil. Es musste Zeiten geben, an denen dieser Zustrom zumindest annähernd soviel Wasser führte wie sein großer Bruder. Wir standen zweifellos am Ufer des Tares, der natürlichen Grenze zwischen
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