Sentry - Die Jack Schilt Saga: Die Abenteuer des Jack Schilt (German Edition)
fragte ich ihn. „Seit unserer Rückkehr aus Radan stimmt etwas nicht mit dir.“
Von einer Sekunde auf die andere zeigte mir Rob auf alarmierende Weise, wie viel ungeahnte Kraft noch in ihm steckte. Ich fuhr regelrecht zusammen, als er fauchte: „Ich will dieses Wort nicht mehr hören! Lass es!“
Aus großen Augen musterte ich den fremdartig gewordenen Bruder, der nach dieser Anstrengung in sich zusammensank. Mit geschlossenen Lidern und energieloser Stimme wisperte er: „Ich bin so müde… so sehr müde.“
Für einen minimalen Moment drängte sich der absurde Eindruck auf, vor mir zwar äußerlich meinen Bruder zu haben, in seinem Inneren aber schienen zwei völlig verschiedene Wesen zu hausen, die mal mehr mal weniger die Oberhand erlangten. Die pure Abwegigkeit dieses irrsinnigen Gedankens ließ ihn mich auch schnell wieder beiseiteschieben. Nicht die leiseste Ahnung hatte ich, wie erschreckend nahe ich für einen verschwindend kurzen Atemzug der Wahrheit gekommen war. Wie hätte ich es zu jenem Zeitpunkt auch ahnen sollen? Selbst wenn, was hätte ich tun können, um meinem Bruder beizustehen? Nichts.
Bevor er hinweg dämmerte, öffneten sich seine Augen noch einmal. Langsam, ganz langsam, teilten sich die Lider. Schwarze Tränen drängten hervor, die im schwachen Kerzenlicht wie Blut aussahen. Endlich fand er meinen Blick. Seine Lippen bebten.
„Was willst du mir sagen?“ Ich brachte das Gesicht nahe an seines.
Rob stammelte etwas Verworrenes. Verständnislos sah ich ihn an. Dann begriff ich. Er hatte Angst. Todesangst. Seine eiskalte Hand berührte die meine. Dies geschah unerwartet, und ich erschrak unwillkürlich.
„Rob, bitte sag, was hier vorgeht! Ich werde Vater holen. Das hätte ich schon viel früher tun müssen.“
Da griff seine eiskalte Hand fest zu und hielt mich zurück. Überrascht nahm ich sein Kopfschütteln zur Kenntnis.
„Nein“, raunte er so energisch wie unter diesen Umständen möglich. „Er hat keinen Zugang dazu… hol ihn nicht, bitte!“
„Keinen Zugang? Wovon sprichst du?“
„Hör mir zu!“ Seine Worte kamen genau so stoßweise wie sein Atem. Das Sprechen fiel ihm von Sekunde zu Sekunde schwerer, als umklammerte eine unsichtbare Hand seine Kehle. „Ich habe nicht viel Zeit, es ist stärker geworden. So viel stärker.“ Das blanke Unverständnis in meinen Zügen mahnte ihn zur Eile. „Lass mich nicht alleine! Lass mich nicht alleine, hörst du?“
„Ja, ich bleibe heute Nacht bei dir.“
„Nein, das meine ich nicht. Gib mich nicht auf! Bleib bei mir, hörst du? Gib mich nicht auf!“ Diese letzten Worte waren nur noch ein heiseres Krächzen, dann versiegte seine Stimme. Robs Augen schlossen sich. Seine Hand löste sich aus der meinen. Dann lag er ruhig da. Schwach ging sein Atem.
„Nein, ich werde dich nicht aufgeben.“ Angst hielt mein Herz umklammert. Wohlbegründete Angst um den geliebten Bruder. Unversehens verschleierten heiße Tränen meinen Blick. „Niemals, hörst du? Niemals! Ich verspreche es.“
Wie viele Stunden ich neben ihm wachend und grübelnd zubrachte, bis mich der Schlaf übermannte, weiß ich heute nicht mehr. In jener Nacht kehrte er zurück, der gleiche Traum, den ich bereits auf Radan geträumt hatte. Wieder trug ich den schweren Stapel Bücher. Wieder folgten mir die dunklen Schatten. Zwischen den freiliegenden Wurzeln abgestorbener Bäume lag Rob. Starr und kreidebleich, die Augen weit geöffnet. Schwarze Tränen flossen unaufhörlich heraus, ein pulsierender Sturzbach aus zäher Tinte. Er war nicht mehr zu retten, dessen war ich mir überraschend gewiss. Dennoch wollte ich nur noch zu ihm und ließ die verfluchten Bücher achtlos fallen. Wie eine Wand schoben sich daraufhin die Schatten zwischen Rob und mich, vernebelten jede Sicht und ließen mich nicht passieren. Was immer ich auch versuchte, ein Durchkommen war unmöglich. Schließlich gab ich es auf. Mein Blick fiel auf die zu meinen Füßen verstreuten Bücher, die zu Staub zerfielen, als liefen Jahrzehnte in Sekunden ab. Ich sah auf. Die Schatten waren verschwunden. Und Rob mit ihnen.
Am Morgen sah ich den Traum verwirklicht. Mit angewinkelten Beinen lag ich vor Robs Bettstatt, mein Oberkörper ruhte in unbequemer Position am Fußende. Das Bett war leer. Keine Spur von Rob.
Ein kurzer Blick durch die Kammer genügte, um mir zu sagen, dass sowohl sein Rucksack als auch der Langbogen fehlten. Mit flauem Gefühl im Magen rannte ich aus dem Haus und den Kiesweg
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