Sephira - Ritter der Zeit 1: Die Bruderschaft der Schatten (German Edition)
meinen Magen schmerzhaft krampfen ließ.
War auch er über Bord gegangen?
Doch dann vernahm ich seine Stimme durch das Tosen des Sturms. »Auf die Beine, Männer! Holt das Segel ein und kippt den Mast!«
Ich entdeckte meinen Vater am Steuer. Dicke Taue, die wie Schlangen um seine Arme lagen, hielten ihn daran fest. Was auch passierte, er würde die Freydis nicht verlassen.
Der Anblick brannte sich in mein Herz.
Wir werden nicht sinken, versuchte ich mir einzureden, obwohl das Heulen des Sturms und das bedrohliche Knacken des Mastes etwas anderes sagten.
Während ich die Augen nicht von meinem Vater lassenkonnte, während ich hoffte, dass er meinen Blick spüren und mich ein letztes Mal ansehen würde, kam ein gewaltiger Brecher auf uns zu.
Alarmiert durch den Ruf eines Mannes richtete ich mich ein wenig auf und sah im nächsten Augenblick die Wasserwand auf uns zurasen. Sie war höher als alle Gebäude, die ich bisher zu Gesicht bekommen hatte. Nicht einmal die Burgen der Normannen hatten derart hohe Mauern.
Mein Herz setzte für einen kurzen Moment aus. Ich glaubte schon, dass der Schreck mir einen gnädigen Tod bescheren würde, doch schon einen Atemzug später schlug es weiter. Das Einzige, was mir jetzt einfallen wollte, war der alte Vers, den jene Frauen sprachen, die ihren toten Ehemännern ins Feuer folgten:
»Nun gehe ich nach Walhalla, wo all meine Ahnen auf mich warten und die Götter mir eine Tafel bereiten …«
Weiter kam ich nicht, denn die Wasserwand krachte gegen das Schiff und begrub es unter sich. Das Knarren des Schiffes und das Rauschen des Wassers waren ohrenbetäubend.
Ich wurde nach vorn geschleudert und machte mich bereit, jeden Augenblick in die schwarzen Tiefen einzutauchen.
Doch etwas hielt mich zurück. Ein Tau schlang sich um mein Bein, und plötzlich ging ein harter Ruck durch meinen Körper.
Der abknickende Mast krachte knapp vor mir auf das Deck. Während ich mich instinktiv an ihm festkrallte, spürte ich einen stechenden Schmerz im Knie, der mich aufschreien ließ. Doch meine Stimme wurde von mächtigen Donnerschlägen verschluckt.
Von klein auf war ich dazu erzogen worden, dem Tod furchtlos ins Auge zu blicken, denn es würden die Tore von Wallhall sein, an denen ich mich nach der großen Finsterniswiederfinden würde. Die Walküren würden mich abholen, ich würde all meine Ahnen wiedertreffen, mit ihnen in den Kampf ziehen und fröhliche Feste feiern.
Doch jetzt, da ich mich verzweifelt an den gebrochenen Mast klammerte und das Wasser hart gegen meinen Körper klatschte, hatte ich furchtbare Angst und zweifelte sogar, ob es Walhall und überhaupt Götter gab.
Mein Vater und die Besatzung des Schiffes waren die einzige Familie, die ich hatte. Ich liebte das Leben und hatte mich schon auf das nächste fremde Land gefreut, das ich kennenlernen würde. Auf die nächste neue Sprache, die ich erlernen konnte.
Doch nun würde das stumme Reich der Fische das Letzte sein, was ich sah.
Das eisige Wasser betäubte mein schmerzendes Knie, während ich zusammen mit dem Mast von den Wogen hin und her geschleudert wurde. Das Holz schwamm, doch wie lange würde ich noch die Kraft haben, mich festzuhalten?
Es heißt, dass man in der Stunde des Todes noch einmal sein ganzes Leben vorüberziehen sieht. Es ist der Augenblick, in dem man vor den Göttern Rechenschaft ablegt, bevor die Walküren kommen und die Seele des Kriegers forttragen.
Während ich meinem sicheren Tod entgegendämmerte, sah ich nur eines: die Nacht, in der wir aus unserer Heimat vertrieben worden waren.
Ich war damals gerade sieben Jahre alt gewesen, ein ungelenkes Mädchen mit viel zu langen Armen und Beinen und weizenblondem Haar, das stets zu einem Zopf geflochten und im Sommer mit Mohnblüten geschmückt war.
Meine Mutter war drei Jahre zuvor im Kindbett verstorben. Mit ihr verließ uns auch der kleine Junge, den sie gerade geboren hatte, der Nachfolger, den sich mein Vater sosehnlich gewünscht hatte. Da er nicht bereit war, eine andere Frau zu freien – zu sehr liebte er seine Gemahlin und wollte ihr bis zum Wiedersehen in Walhall nicht untreu werden –, beschloss er kurzerhand, aus mir, seiner Tochter, einen Sohn zu machen.
Er ließ also meine Haare abschneiden, die Mohnblüten wurden verbannt und anstelle von Kleidern trug ich von nun an Hosen und Hemden wie die anderen Jungen im Dorf. Nur meine Gesichtszüge und die großen blauen Augen deuteten noch darauf hin, dass ich ein Mädchen war.
Eine
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