Sepia
bei Frau Felber in der Bibliothek gelesen, nun hört sie von Einheimischen, es gebe eine Stelle im Fluss, ziemlich in der Nähe der kaputten Brücke, die heiße Ochsenfurt, weil da in früheren Zeiten die Rinderherden von einem zum anderen Ufer geleitet wurden, einfach von einer Weide zur anderen oder in den Schlachthof auf der anderen Seite der Stadt. Eine Untiefe also. Eli glaubt an den Fluss und an ihre standfesten Beine. Es bleibt ihr nichts anderes übrig. Wo eine Untiefe ist, da wird es gewiss im Flusslauf eine zweite und dritte Untiefe geben, eine flache Stelle, wo man durchkommen kann, auch als Mensch.
Eli trägt auf dem Meldezettel der Pension das Datum ein, den 23. Juni, morgen ist Johannistag.
Die Frau an der Theke hat alles erklärt, die Zimmernummer, die Waschgelegenheit oben auf der Etage, dass Eli die Schlüssel am Mann behalten soll, wenn sie außer Haus geht. Frühstück von sieben bis acht, die Frau hat auf einer Liste eingetragen, wie viel Semmeln Eli morgen essen möchte, und sie hat Eli gesagt, dass man die Rechnung erst bei Abreise bezahlen muss. Auf dem Meldezettel die Unterschrift nicht vergessen und Ausweis abgeben.
Eli hat zu allem genickt, sie lässt sich nichts anmerken, weder die Unsicherheit noch die Angst. Sie denkt an die Drahtschere in ihrem Gepäck, extra scharf, selbst geschliffen. Sie schreibt mit dem Pensionsbleistift an Anton eine offene Ansichtskarte, ein Foto von den Häusern am Brautwiesenplatz. Morgen Abend will ich es irgendwie irgendwo wagen. Mach Dir keine Sorgen, deswegen nicht und auch nicht um die Kosten hier.
Ein Übernachtungsgast hat sich in der Gaststube eingefunden, sportlich in Jesuslatschen und Turnhemd, er unterhält sich an der bretterverschalten Theke mit der freundlichen kundigen Wirtin, kälbert über das Bier, das in Görlitz am besten schmecke, und zwar aus der Flasche. Die Wirtin weiß, dass er kein Bierglas haben möchte. Aus Prinzip. Sie stellt ihm die nächste Flasche hin.
Die Letzte, sagt er und süffelt genüsslich. Eli hat herausgehört, dass Görlitz eine eigene Brauerei hat, und sie hat erlauscht, dass er oft hier übernachtet. Ein Stammgast, ein Fernfahrer aus Wittenberge auf dem Weg nach Polen. Eli spitzt die Ohren. Er hat Veritas-Nähmaschinen geladen, die er rüber nach Polen transportieren muss. Nach früher Goldberg. Er bestellt nun Apfelsaft und spendiert eine Runde für Eli und die Wirtin. Zum Wohl. Was nützt das schlechte Leben? Soist die Stimmung. Er fahre gerne von Wittenberge rüber nach Złotoryja. Er mache in Görlitz Stopp, weil er frühmorgens am Ziel ankommen möchte, da seien die Leute in Złotoryja noch nüchtern, und er gewinne einen ganzen polnischen Tag.
Der Fernfahrer erzählt weiter, dass er letzte Woche Geburtstag hatte, den zweiunddreißigsten. Jetzt wird es langsam, aber sicher ernst, sagt er.
Man ist so alt, wie man sich fühlt, sagt die Wirtin hinter dem Tresen. Eli weiß inzwischen, dass sie keine richtige Wirtin ist. Sie arbeitet hier als Angestellte der HO-Gaststättenbetriebe, zweimal am Tag kommt sie vom Nachbardorf angeradelt, um mit Frühstück und Rechnungen ihre acht Stunden vollzumachen. Zum Bettenbeziehen und Saubermachen nimmt sie die Zeit bis zum Abend.
Vom Rasenrondell draußen vor dem Fenster hört man die Grillen, ein Dauerton wie von einem elektrischen Apparat.
Goldberg kenne ich, sagt Eli. Es rutscht ihr heraus. Und das ist nun gewiss der Augenblick, wo die Gaststättenangestellte und der Fernfahrer an der Theke hätten fragen müssen, warum Eli hier übernachtet, was Eli überhaupt hier zu suchen hat, hier in dem Ort an der deutsch-polnischen Grenze, aber sie fragen nicht, sie wollen nichts wissen, die beiden haben irgendetwas anderes im Sinn.
Eli kann sagen, was sie will, singen oder zirpen wie eine Grille, sie kann ihnen was vorspinnen von gestern, von damals, vom Zirkusfest in Goldberg, wo die kleine Eli hätte gerne dabei sein wollen, aber leider hatte die Großmutter nicht aufhören können mit dem Feinmachen und Putzen, dem Kämmen und Zöpfeflechten und Schleifeneinbinden in Elis Haar. Die Großmutter hatte noch die Schleifen gebunden, da war die lustige Kutsche unten am Tor vorbeigaloppiert, vollbeladen mit sämtlichen Kindern des Dorfes, nur nicht mit Eli. Man hat lange den Staub gesehen und die Pferdeglöckchen gehört, dieWolke in der Ferne. Immer noch die Kutsche. In Ewigkeit das Geläut des Pferdegeschirrs.
Goldberg, die Zirkusstadt, von Goldberg aus wäre es gewiss nur ein
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