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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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sie hatte ja nur eine Landkarte im Kindermaßstab im Kopf und sowieso keinen Bleistift. Eli denkt einmal mehr daran, den Pensionsstift heimlich von der Schnur abzuschneiden.
    Eli drückt beide Daumen, sie kämpft gegen ein flaues Gefühl in der Magengegend. Hunger und Kleinmut oder Übermut. Sie beschwichtigt die Zweifel. Es ist nicht weit bis zum Parkplatz. In Görlitz gibt es wahrscheinlich überhaupt keine weiten Wege. Hinter dem Bahnhof halten die Laster, entweder für einen kurzen Kaffeestopp in der Mitropa oder über die ganze Nacht bis zum Start am Morgen.
    Eli kommt zu spät, der Lkw aus Wittenberge hat die Reihe bereits verlassen, er rollt in diesen Minuten gewiss schon über die Brücke, geradeaus weiter nach Polen.
    Schade, er rollt ohne die Büchse. Eli atmet trotzdem erleichtert auf, Uwe, der Chauffeur, ist fort, die Chance und die Falle. Wer weiß.
    So auf sich gestellt, beinahe heiter, trägt Eli die Büchse zurück in die Unterkunft. Nichts gewonnen, aber auch nicht total auf die Nase gefallen.
    Das Weitere muss sich finden. Erst einmal Frühstück, Semmeln und Milch. Eli betritt die Gaststube, sie drückt die Büchse fest an die Brust.
    Über Kopf hängt eine bunte Wolke aus Seidenpapier, Girlanden, Lampions, Bänder rascheln im Luftzug, in der Mitte schwenkt ein großer blauäugiger und elektrifizierter Vollmond. Große Zähne lächeln herab.
    Irmgard hat schon gelüftet und serviert.
    Heute ist Johannistag, sagt sie.
    Sie kümmert sich um den Gummibaum, die Grünpflanzen, die Blumenvasen für die Tische.
    Eli vertilgt ihre Semmeln.
    Johannistag, das ist die Erklärung für die Trittleiter und den Pappkarton, der nun leer mit aufgewickelter Schnur auf dem Tresen steht, neben einer leeren Bierflasche, das ist die Erklärung für das breite Grinsen des Mondes. Verständnisinnig, aufklärerisch in seiner Mission als Laterne.
    Nur Mut, liebe Eli.
    Uwe ist ein hilfsbereiter Mensch, gestern hat er Girlanden aufgehängt, jetzt fährt er eine Ladung Nähmaschinen nach Polen. Kommt Zeit, kommt Rat. Es ist noch nicht aller Tage Abend, im Gegenteil, jetzt geht es los.
     
    Ich hole meine Sachen, sagt Eli.
    Auf dem Tresen liegt die Rechnung, Übernachtung und Frühstück.
    Eli zahlt.
    Im Centrum-Kaufhaus kauft Eli ein paar Sachen, die sie in Polen brauchen wird, Tauschobjekte, am besten eignen sich Büstenhalter, das weiß man, die sind willkommen.
    Sie kauft außerdem eine Tischdecke aus Igelit und eine Schachtel Bleistifte, zwölf Stück zum Verschenken, zwei davon trägt sie zur Pension am Brautwiesenplatz. Sie wirft die Bleistifte in den Hausbriefkasten.
    Die Glocken läuten, erst fern und dann ganz nah, für Eli und weil Johannistag ist.
    Eli schultert den Rucksack, sie wandert quer durch eine Gartenkolonie, dann einen Hügel hinunter. Unterwegs hat sie einen Stock gefunden, mannshoch, einen Pilgerstab, sie hat gerne einen Stock in der Hand.
    Der Stadtpark ist in den Jahren in Höhe und Dichte zu einem Wald geworden, dann fängt das Urstromtal an. Natur.
    Ein sumpfiges Gelände, man hört fließendes Wasser, den Fluss. Frösche, die Rohrdommel, den Schrei eines Kranichs. Eli bahnt sich einen Weg durch schulterhohes Kraut, sie verschwindet im Grün, Mandelgeruch streift um die Nase. Es sind die blühenden und stark staubenden Dolden vom Mädesüß oder Johanniswedel oder Unsern Herrgott sein Bart. Sie muss die Augen zukneifen, sie muss sich die Nase zuhalten, trotzdem tönt ihr Niesen durch das Gestrüpp. Verräterisch. Wer weiß wie weit. Hatschi. Eli hockt sich hinunter zur feuchten staubfreien Erde, die Laute, die nun noch ein paarmal aus ihrer Nase trompeten, tönen wie von einer Bekassine, also wie von einer Himmelsziege. Tick är, tick är. Es ist ein metallisches Meckern. Ein Naturlaut im Grenzgebiet. So gebückt, tastet sie sich voran, näher ans Wasser. Die Handschmerzt, Eli schmeckt, das ist Blut. Sie niest noch einmal. Tick är.
    Stacheldraht. Dreimal Draht.
    Den Rucksack über Kopf. Die Drahtschere. Der sanfte Fluss. Man weiß nicht, was noch kommt, nur Steine oder auch Stalinrechen, Eisenspitzen. Minen. Eli tastet mit dem Pilgerstab. Das Wasser reicht bis unter die Achseln, dann bis zum Kinn, damit hat sie die Mitte des Flusses erreicht. Eli balanciert mit der rechten Hand den Rucksack hoch im Nacken. Sie hält mit der linken Hand den Stab fest.
    Dann ist Eli auf der anderen Seite. Polen. So liest man es in den neuen politischen Atlanten, und so wird es sein. Über dem Fluss beginnt das fremde

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